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Exkurs Einleitung
Gesellschaft-Natur-Verhältnisse in langfristiger
Betrachtung
Verena Winiwarter
Natur und Umwelt
Während der Begriff „Natur“ in Europa seit der Antike exis-
tiert, ist die Begriffsgeschichte des Wortes „Umwelt“ weit
kürzer. Der Begriff tauchte im Deutschen im Jahr 1800 als
Neubildung auf (Winiwarter 1994). Für das Verhältnis der
beiden Begriffe haben die deutschen Historiker Siemann
und Freytag die folgende Konstellation vorgeschlagen: Der
Mensch ist auf Natur angewiesen, diese wiederum werde
durch Existenz und Einwirkungen des Menschen zur
Umwelt, die ihn umgibt, aber auch formt (Siemann & Frey-
tag 2003).
Die Frage, ob Natur kulturell konstruiert oder eine Rea-
lität außerhalb der menschlichen Verfügung sei, kann nur
dialektisch beantwortet werden: Natur wird zweifelsohne
durch Menschen als das Andere der Kultur konstruiert,
denn Kultur wird durch das Ziehen der Grenze zum Ande-
ren, zum Außen konstituiert. Das Außen wird als unge-
kocht, roh, ungezähmt, wild, nicht kultiviert, wenngleich
vielleicht kultivierbar, konstruiert. Erst diese Abgrenzungs-
arbeit erlaubt die Konstitution eines Innen, der Heimat, der
Kultur. Ohne ein Außen, die Natur, für die angelsächsische
Welt insbesondere „die Wildnis“, ist Kultur nicht denkbar.
Das Außen ist bedeutungsvolle und notwendige Vorausset-
zung für ein Innen (Hazelrigg 1995). Jenseits der Konstruk-
tion tritt uns die fundamentale Natur nach Hazelrigg etwa
als innere Natur unserer Eingeweide oder als neurobiologi-
sches Substrat unserer Kognition entgegen, nicht nur als
Vulkanausbruch oder Wirbelsturm.
Die Entscheidung, ob wir wilde oder sublime Natur
sehen, hängt unmittelbar mit Machtverhältnissen in der
Gesellschaft zusammen (Steinberg 2002). Eine historisch
besonders wirkmächtige Form dieser Zuschreibung ist die
Naturalisierung von fremden Völkern als „edle Wilde“ oder
aber „unzivilisierte Barbaren“. Für beide Zuschreibungen ist
die angenommene Naturnähe der Fremden konstitutiv,
deren Bewertung dann aber diametral verschieden.
Die Frage, was Natur ist und wie sie sein sollte, wurde
erst in der Industriegesellschaft explizit zum Thema politi-
scher Auseinandersetzungen (Böhme 1996). Die Zuschrei-
bung zu „Natur“ oder „Kultur“ ist allerdings seit langer Zeit
eine politische Frage, mit der Machtansprüche verbunden
sind (Stauber 1995). Der Geograph Clarence Glacken hat
anhand eines umfassenden ideengeschichtlichen Über-
blicks über europäische Literatur gezeigt, dass es bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts drei dominante Naturkonzepte
gab. Das erste Konzept geht davon aus, dass der Planet für
die Menschen gemacht ist, eine klare Hierarchie ist die
Folge. Das zweite Konzept korreliert Umweltfaktoren mit
individuellen und kollektiven Eigenschaften von Menschen,
dieses Konzept wird auch als Umweltdeterminismus be-
zeichnet. Das dritte Konzept konzentriert sich auf die Rolle
des Menschen als aktiver Beeinflusser der Natur, als Kulti-
vator von Natur. Die Rolle des Menschen als Zerstörer von
Natur wird - von wenigen Ausnahmen abgesehen - erst im
19. Jahrhundert thematisiert (Collingwood 2005, Glacken
1967 und 1988).
Die Rolle der Natur in der historischen
Entwicklung
In der Umweltgeschichtsschreibung wird die Zuschreibung
von Wirkungsmacht an die Natur problematisiert, es wird
gefragt und kontrovers diskutiert, ob Natur agency, also
Akteursstatus, hat oder ob sie den Strukturen zuzurechnen
sei. Braudel beispielsweise, der für die Konstitution europä-
ischer Geschichtsbilder weithin rezipierte Entwürfe vorge-
legt hat, rechnet Natur in Form von longue durée zu den
Strukturen. Die Frage, ob Natur als Struktur oder als Aktant
oder Akteur zu konzeptualisieren ist, führt zur Kritik am
Konzept des Dualismus von Struktur und Handlung: Struk-
turen sind immer zugleich Medium und Ergebnis sozialen
Handelns, so wie die äußere Natur immer sowohl Ergebnis
als auch ein Grenzen setzendes Medium sozialen Handelns
ist (Giddens 1979). Natur ist Medium, da sie bestimmte
Handlungen zulässt, andere aber verhindert. Natur ist
Resultat, weil sie nur produziert werden kann, wenn sie als
Und in welchen Dimensionen zeigt sich heute „Relief“?
Hinter den paläo-befrachteten morphogenetischen Konzep-
ten stehen aktuell manifeste Bewertungen im Rahmen von
digitalen Geländemodellen beispielsweise bei der Stand-
ortfrage von Windkraftanlagen, der Bewertung von Stoffbi-
lanzen und Sedimentkaskaden im Rahmen der Einrichtung
von Rückhaltebecken am Oberrhein, von Rutschungsge-
fährdung im Periglazial infolge des Austauens von Perma-
frost durch den anthropogen induzierten Klimawandel und
so weiter. Und es ist die Frage zu stellen: Welche spezifisch
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