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Kapitel 2
Europas gesellschaft-
licher Umgang mit
Natur und Umwelt
Rüdiger Glaser
Die Erzählung vom Anthropozän, der Umgestaltung der natürlichen Umwelt durch den
Menschen, hat ihre Verwirklichung vor allem in den Industriestaaten Europas und
Nordamerikas und inzwischen auch in den BRIC-Ländern (Brasilien, Russland, Indien,
China) erfahren. Im Anthropozän (Crutzen 2002, Ehlers 2008) dominieren menschliche
Eingriffe in Ökosysteme zunehmend die natürlichen Stoffkreisläufe. Die seit der Auf-
klärung in der abendländischen Wissenschaft selbstverständlich erscheinende Tren-
nung von Natur und Kultur beginnt sich aufzulösen. Wir leben in einer Welt hybrider
Mensch-Umwelt-Systeme, Europa ist zu einem zentralen sozio-ökologischen Schau-
platz geworden.
Natur und Umwelt sind gesellschaftlich konzeptualisiert, das heißt, sie sind Ausdruck
gesellschaftlicher Werthaltungen und Normierungen. Was wir sehen wollen und können,
wie wir die Dinge betrachten und welchen Wert wir ihnen beimessen, ist Ausdruck unse-
rer Wertvorstellungen. Diese sind sozial und kulturell geprägt, Ergebnis von Erziehung,
Lebenserfahrung und normativen Vorgaben. Im Rahmen des Konstruktivismus hinter-
fragen wir diese Bilder. Wie kommen wir zu bestimmten Vorstellungswelten, welche Pro-
zesse steuern diese? Wer und was bestimmt sie? Was ist Natur, was ist Umwelt, welchen
Wert messen wir diesen bei? Mit welchen Normierungen hantieren wir? Welche Diskurse
und gesellschaftlichen Debatten führen wir?
Natur und Umwelt haben viele Umdeutungen erfahren und eröffnen verschiedenste
Zugangswege - Natur als originäre Sphäre, Umwelt als der anthropogen transformierte,
zugleich normativ befrachtete Teil, interpretiert als Erdsystem, als Energie- und Stoff-
bilanz, als Ressource, als schützenswertes Gut und belastete Altlast, als philosophische
Projektion, als komplementärer Ruhe- und Erholungsraum. In diesem Sinne werden
Natur und Umwelt als sozio-naturale Bühne, einzelne Facetten als sozio-ökologische
Schauplätze angesehen. (Zu Gesellschafts-Natur-Verhältnissen in längerer historischer
Perspektive und zum Begriff der sozio-naturalen Schauplätze siehe auch den folgenden
Exkurs.)
Für die in diesem Kapitel behandelten Themen bedeutet dies eine bestimmte Her-
angehens- und Sichtweise. Die in der Gliederung gelisteten „klassischen“ Geopotenzi-
ale sollen eine Würdigung als sozio-naturale Konstruktionen erfahren. Neben dem obli-
gatorischen Basiswissen und den einschlägigen Überblicksentwürfen werden daher
primär die gesellschaftliche Sicht und der gesellschaftliche Umgang der Geopotenziale
thematisiert. Welche aktuelle, problemorientierte Sicht haben wir heute auf diese
Potenziale? Wofür stehen die geologischen Grundlagen, welche Relevanz besitzen
Gebirgsbildungsphasen und mesoskalige Gliederungen in saxo-thuringische, rhenani-
sche oder herzynische Zonen - oder zentrieren wir besser auf Ressourcennutzung und
Bergbaufolgelandschaften, auf Erdbeben- und Vulkanrisiken bzw. den Umgang mit
ihnen?
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