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Exkurs 5.10
Die West Midlands als Spielball der Automobilindustrie?
Die Region West Midlands mit ihrem Zentrum Birmingham
hat der Automobilindustrie ihren Aufstieg, letztendlich aber
auch ihren industriellen Niedergang zu verdanken. Alteinge-
sessene Fahrradhersteller der Stadt Birmingham hatten um
1900 damit begonnen, ihre Fertigkeiten der Metallverarbei-
tung und Mechanik auf den Fahrzeugbau zu übertragen
(Boschma & Wenting 2007). Bis Anfang der 1970er-Jahre
waren sie erfolgreich darin, den englischen und zum Teil
auch den amerikanischen Markt mit Automobilen zu be-
dienen. Zu dieser Zeit war der Markt für Automobile in
Europa noch hochgradig national segmentiert. Mit der
nachfolgenden Öffnung der Märkte wurde indes die Pro-
duktivitätsrückständigkeit der britischen Hersteller im Ver-
gleich zu ihren europäischen und japanischen Wettbewer-
bern sichtbar. Zwischen 1978 und 1985 verloren in den
West Midlands 100 000 Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz. Die
Stellenstreichungen wurden von Streiks begleitet. Hohe
Lohnerwartungen und der Ruf einer schlechten Arbeitsmo-
ral verstärkten die Anreize der führenden Großunterneh-
men, außerhalb der West Midlands zu investieren. Herstel-
ler wie Ford oder General Motors, die in England seit den
1920er-Jahren in eigene Fertigungskapazitäten investiert
hatten, begannen im Zuge selektiver Internationalisierun-
gen, europaweit integrierte Fertigungsverbünde aufzu-
bauen. Spanien etwa wurde für sie ein wichtiger Absatz-
markt und aufgrund relativ niedriger Lohnkosten ein
Produktionsstandort für Exportfahrzeuge und Fahrzeug-
komponenten. Ab den 1980er-Jahren wurden britische
Automobilmarken nach und nach von ausländischen Wett-
bewerbern aufgekauft und die Produktion an den alten
Standorten weiter rationalisiert. Darin sahen wiederum
japanische Hersteller ihre Chance. Sie investierten an den
alten englischen Standorten, um von dort aus den europä-
ischen Markt zu betreten. Der frei verfügbare Pool an gut
ausgebildeten Facharbeitern wurde von ihnen als Standort-
vorteil gewertet. Auch für Peugeot waren der Zugang zu
Facharbeitern sowie die Chance auf Marktanteile in Eng-
land ein Grund für die Eröffnung eines großen Werkes süd-
östlich von Coventry im Jahr 1986. Der Rückgang der briti-
schen Automobilproduktion hatte sich zwischenzeitlich
stabilisiert. Die Strukturen in der europäischen Automobil-
industrie haben sich jedoch weiter gewandelt (Lagendijk
1997). Die großen Hersteller hatten damit begonnen, For-
schungs- und Entwicklungsleistungen auf wenige aus-
gewählte Systemzulieferer zu übertragen, sie dadurch in
Verantwortung zu nehmen und in abhängige, aber auch pri-
vilegierte hierarchische Zulieferbeziehungen einzubinden.
Systemzulieferer folgen den Herstellern regelmäßig an
neue Produktionsstandorte und haben ihrerseits hierarchi-
sche Zulieferstrukturen zu Komponentenherstellern und
Lohnfertigern aufgebaut. Einkaufsstrategien des sogenann-
ten global sourcing haben den Wettbewerb zwischen den
Zulieferern am unteren Ende der Hierarchiestufen stark
erhöht und Anreize zur Verlagerung dieser Wertschöp-
fungssegmente an lohnkostengünstige Standorte geschaf-
fen. Mit der Öffnung der osteuropäischen Märkte in
den 1990er-Jahren und der Einbindung Polens, Ungarns,
Tschechiens sowie der Slowakei in den europäischen Wirt-
schaftsraum wurden die Standortstrategen der Automobil-
industrie auf neue lohnkostengünstige Standorte aufmerk-
sam (Pavlínek & Janák 2007). Hersteller wie GM-Opel, VW,
Fiat und Renault übernahmen in den ersten beiden Jahren
nach der Wende 90 Prozent der osteuropäischen Produk-
tionskapazitäten. Seither sind andere Hersteller gefolgt -
zum Teil wie Peugeot-Citroen (PSA) und Toyota im Zuge
strategischer Allianzen (Abb. 1).
Einige Strategien der Automobilhersteller sahen Werks-
schließungen an alten Standorten vor. Der Aufbau neuer
Produktionskapazitäten und die Reorganisation der Stand-
ortverflechtungen hatten für die Automobilhersteller einen
willkommenen Nebeneffekt: Sie verbesserten ihre Verhand-
lungsmacht gegenüber den Gewerkschaften und Wirt-
schaftspolitikern in Westeuropa. Mehrfach rangen die gro-
ßen Hersteller Arbeitnehmern und Wirtschaftspolitikern für
den Erhalt von Arbeitsplätzen an alten Standorten finan-
zielle Zugeständnisse ab. Der Region West Midlands half
dies indes wenig, als der Peugeot-Konzern Ende 2006 die
Schließung seines Werkes vollzog und zeitgleich die Eröff-
nung eines neuen Werkes in der Slowakei feierte. Während
in den West Midlands eine Jahresproduktion von 200 000
Fahrzeugen stillgelegt wurde, 2300 Arbeitsplätze direkt ver-
schwanden und 5000 weitere mittelbar in der Zulieferkette
betroffen waren, soll die Slowakei bis Ende 2012 mit Kapa-
zitäten von über 840 000 Fahrzeugen zum weltweit fünft-
größten Produktionsstandort der Automobilindustrie aus-
gebaut werden.
Umland einer Stadt, was dort zur Erhöhung des regio-
nalen BIP führt.
Wachstums- und vor allem Schrumpfungsprozesse
des regionalen BIP lassen sich besonders gut aus Bran-
chensicht erklären und differenzieren. Der Struktur-
wandel in einer räumlich konzentrierten Branche kann
einen Wandel der regionalen Wirtschaftsstruktur auslö-
sen. Traditionelle Branchen wie die Textil-, Leder-,
Haushaltswaren- oder Spielwarenindustrie sind einem
globalen Wettbewerb der Produkte und der Produktion
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