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wicklung ablesen lässt. Um 1800 lebten zwar bereits
550 000 Einwohner in der Stadt, das waren aber erst
2 Prozent aller Franzosen. 1848 zählte Paris 1,5 Millio-
nen Einwohner oder 4,5 Prozent der Gesamtbevölke-
rung, 1881 waren es bereits 2,8 Millionen oder 7,5 Pro-
zent - eine sehr ungewöhnliche Zunahme in einem
Land, dessen Bevölkerungswachstum sich bereits Ende
des 19. Jahrhunderts der Stagnation genähert hatte. 1990
schließlich wohnten in der Agglomération de Paris mit
9,1 Millionen Einwohnern 16 Prozent der französischen
und über 21 Prozent der städtischen Bevölkerung. Die
Stadt beherbergt damit genauso viele Menschen wie die
17 nächstgroßen Ballungsräume Frankreichs zusammen
(Brücher 1992).
Seit 1992 werden in Frankreich ernsthaftere Be-
mühungen um eine politische Dezentralisierung unter-
nommen. Allerdings handelt es sich dort bei den Regio-
nen nach wie vor um nachgeordnete Gebietskörper-
schaften mit Verwaltungskompetenz, nicht aber mit
legislativer Gewalt und einer entsprechenden Finanz-
hoheit.
Am deutlichsten förderalistische Strukturen weist im
EU-Europa bis heute Deutschland auf. Anders als
Frankreich hat Deutschland keine dominierende Metro-
pole, kennzeichnend ist vielmehr ein föderalistischer
Staatsaufbau und eine gewisse Funktionsteilung der
großen Städte: Frankfurt als Bankenstadt, Hamburg und
München als Medienstädte, Berlin als neue/alte Haupt-
stadt (Abb. 4.12).
Berlin hatte nie die Funktion eines alles überragen-
den Zentrums, auch nicht während seiner wirtschaft-
lichen und städtebaulichen Blütezeit um die Jahrhun-
dertwende und in der Zwischenkriegszeit. Noch die
„Weimarer Republik“ war in Weimar nach dem verlore-
nen Ersten Weltkrieg ausgerufen worden und enthielt
keine dezidierten Bestimmungen über die Hauptstadt;
Berlin hätte es verfassungsmäßig nicht sein müssen,
wurde es aber aufgrund seines wirtschaftlichen und
politischen Gewichts quasi automatisch. Nach 1945 hat
die deutsche Teilung einer rheinischen Provinzstadt,
Bonn, die Funktion einer provisorisch verstandenen
Teilhauptstadt der westdeutschen Republik verschafft.
Gewinner des Funktionsverlustes von Berlin nach
dem Zweiten Weltkrieg waren die großen westdeutschen
Regionalmetropolen Düsseldorf und Köln, aber auch
Frankfurt und München, die frühere Berliner Funktio-
nen übernahmen (Bankwesen in Frankfurt, Versiche-
rungen in Köln und München, Publizistik und Kultur in
München). Das Städtesystem der DDR wurde von Ost-
Berlin angeführt, gefolgt von den Regionalmetropolen
Dresden und Leipzig sowie den großen Bezirkshaupt-
städten wie Rostock, Potsdam, Magdeburg, Erfurt, Halle
und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz).
Seit einigen Jahren, und inzwischen auch in der
Verfassung verankert, hat sich Belgien einen betont
föderalistischen Staatsaufbau gegeben, um den alten
sogenannten „Sprachenstreit“ zu entschärfen. Belgien
besteht inzwischen aus zwei (bzw. drei) innenpolitisch
weitgehend selbstständigen Teilräumen: dem flämischen
Landesteil mit Antwerpen als Zentrum im Norden und
dem wallonischen Teil mit Namur (früher Liège) als
Zentrum im Süden. Die Hauptstadt Brüssel spielt eine
Sonderrolle, da sie überwiegend französischsprachig ist,
aber inmitten des flämischen Gebiets liegt. Ganz im
Osten liegt die kleine deutschsprachige Gemeinschaft
mit dem Zentrum Eupen, die zur Wallonie gehört, aber
eine zumindest im kulturellen und im Ausbildungsbe-
reich recht weitgehende Selbstständigkeit genießt.
Fazit
Die Konstruktion räumlicher Gegensätze in Europa hat
sowohl in der geographischen Wissenschaft wie im All-
tagsverhalten der Menschen Konjunktur. In Deutsch-
land hieß es früher „Bayern gegen Preußen“, heute eher
„Ossis gegen Wessis“. Unser Land befindet sich dabei in
der guten Gesellschaft unserer Nachbarländer. Der nicht
nur in Frankreich erfolgreiche Film „Willkommen bei
den Sch'tis“ thematisiert den Gegensatz zwischen der
Sonnenregion an der Côte d'Azur und dem kalten Nor-
den nördlich von Calais mit seiner für Franzosen seltsa-
men Sprache (Sch'ti). In Belgien existieren solch massive
wirtschaftliche, politische und mentale Unterschiede
zwischen dem flämischen und wallonischen Landesteil,
dass der belgische König mitunter als „letzter Belgier“
bezeichnet wird. In Italien mit seinem massiven Gefälle
zwischen dem Norden und dem Mezzogiorno existiert
eine eigene Regionalpartei, die Lega Nord . Auch inner-
halb Europas hatte sich, verstärkt seit den Zeiten des
Kalten Krieges, die Konstruktion Westeuropas als „mo-
dern“ und jene des Ostens als „rückständig“ herausge-
bildet, gleichsam eine innereuropäische Form von orien-
talism (Said 1978), das heißt der Wahrnehmung von
großräumigen Differenzen durch einem Prozess des
othering (Chakrabarty 2009).
Weshalb eigentlich diese hartnäckige Tendenz zur
„Verräumlichung“ sowohl in Wissenschaft wie Alltag?
Der Grund liegt wohl in der spezifischen Qualität räum-
licher Etiketten. „Labeling huge swaths of …(a) territory
with a singular identity“ (Ó Tuathail et al. 1998) ermög-
licht bekanntlich, wie die Politische Geographie lehrt,
die Übersetzung komplexer ökonomischer, sozialer und
politischer Gegensätze in einfache räumliche Kate-
gorien. Diese Form der Ordnung von „Wirklichkeit“
verschleiert mit ihrer Komplexitätsreduzierung zwar
differente Strukturen und Prozesse, erleichtert aber
andererseits die Übersicht und ermöglicht Positionie-
rung und Stellungnahme, sie liefert uns ein Repertoire
an Bildern und Topoi, mit dem wir uns ein Gesamtbild
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