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Exkurs 3.1
Die problematische Rolle lagedeterministischer
Leitbilder in der EU-Erweiterungsdebatte:
Beispiel Sicherheits- und „Mittellage“-Diskurs
In der politischen Debatte dient ein Rückgriff auf Elemente
des geopolitischen Sicherheitsdiskurses in der Regel dazu,
die Akzeptanz der eigenen Entwürfe und Vorstellungen
durch die Skizzierung existenzieller Bedrohungen zu erhö-
hen. Diese auch als „Risikosemantik“ (Schott 2005)
bezeichnete Form der geopolitischen Begründungsrhetorik
unterliegt territorial-politischen Sicherheitsstrukturen wie
zum Beispiel dem Schengener Abkommen oder europabe-
zogenen politischen Regionalisierungen wie zum Beispiel
dem Modell der konzentrischen Kreise. Solche Formen der
Raumkonstruktion finden sich beispielsweise in der vom
damaligen Außenminister Joschka Fischer (Die Grünen) im
Jahr 2000 gehaltenen „Berliner Finalitätsrede“, in der er
eine Art geopolitische Zonierung Europas entwirft: Im Zen-
trum entsteht mit einer engen politischen Föderation zwi-
schen Deutschland und Frankreich ein Kern bzw. ein Gra-
vitationszentrum (potenziell zukünftig um weitere Länder
erweiterbar), das von Kreisen geringerer Integration um-
geben wird, an deren Ende der Nahe Osten und Nordafrika
stehen. Mit Modellen wie diesen wird häufig auch die
strategische Option adressiert, für Fälle wie die Türkei
oder für die Länder Ex-Jugoslawiens, differenziertere For-
men der Zusammenarbeit als die derzeitigen entwickeln zu
können.
Eine spezifisch deutsche Ausprägung dieses Sicherheits-
diskurses ist der Verweis auf geographische Lagebezüge in
Europa in Form der „Mittellage“. Ungeachtet der historischen
Verstrickung dieser aus der klassischen deutschen Geopoli-
tik bekannten und für die nationalsozialistische Blut-und-
Boden-Ideologie bereits unrühmlich instrumentalisierten
Repräsentation, das heißt ungeachtet ihrer unauflöslichen
diskursiven Verkopplung tauchte diese geodeterministische
Denkfigur seit etwa Mitte der 1990er-Jahre wieder im Kontext
politischer Statements der EU-Erweiterungsdebatte als Be-
gründungsmuster spezifischer geostrategischer Optionen
und Handlungen auf. So steht es beispielsweise in einem
europapolitischen Grundsatzpapier der CDU aus dem Jahr
1995 zu lesen, das seinerzeit von Wolfgang Schäuble und
Karl A. Lamers verfasst wurde.
Sie fordern darin „nach dem Ende des Ost-West-
Konfliktes [...] eine stabile Ordnung auch für den östlichen
Teil des Kontinents [...]. Daran hat Deutschland ein beson-
deres Interesse, weil es aufgrund seiner Lage schneller und
unmittelbarer als andere von den Folgen östlicher Instabi-
schen und deutschen Europapolitiker geforderte stär-
kere Integration zu untergraben und dadurch die histo-
risch lang eingeübte eigene geopolitische Rolle auf der
Weltbühne möglichst unabhängig zu erhalten. Die Stra-
tegie dazu besteht in zwei miteinander zusammenhän-
genden Argumentationen:
Bezogen auf den geopolitischen Zuschnitt der künfti-
gen EU plädierten im Rahmen der Erweiterungsdebat-
ten viele britische Europapolitiker für eine möglichst
starke räumliche Ausweitung der EU. Dazu rekurrierten
sie beispielsweise auf Grundlage der geographischen
Prämisse der EU-Verträge von Nizza auf die angestrebte
„Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker
Europas […]“ (Art. 1 des Vertrags über die Europäische
Union von Nizza) und schlossen mit einer entsprechend
weit gefassten Konstruktion von Europa teilweise selbst
den Beitritt von Staaten wie Weißrussland, der Ukraine,
der Balkanstaaten und der Türkei nicht aus, die von vie-
len deutschen und französischen Europapolitikern mit
mehr oder weniger großer Skepsis gesehen werden.
Bezogen auf die Art der Integration der Staatenge-
meinschaft führe dies - so die Kalkulation der Briten -
eher zu einer Forcierung der inneren Pluralität mit der
Konsequenz, dass es in der EU zunehmend stärker zu
wechselnden themenbezogen Allianzen und Teilbünd-
nissen unterschiedlicher Staaten kommen werde. Diese
innere Pluralisierung und Fragmentierung der EU
werde zwei wesentliche Folgen nach sich ziehen: eine
Vergrößerung des gemeinsamen Marktes, die der dama-
ligen marktliberalen britischen Politik durchaus ent-
gegenkommt, sowie die Reduktion gesamteuropäischer
Kompetenzen und Funktionen auf essenzielle Kernauf-
gaben.
Als Folge einer entsprechend „überdehnten“ EU
bleibe die Rolle der einzelnen Nationalstaaten relativ
stark und damit bleibe auch die weltpolitische Unab-
hängigkeit und Rolle Großbritanniens weitgehend
unangetastet. Diese geopolitische Imagination wird mit
Selbstbewusstsein vertreten und fußt nicht nur auf der
historischen Rolle des „alten Empire“, sondern auch auf
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