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lität betroffen wäre. Die einzige Lösung […], mit der ein
Rückfall in das instabile Vorkriegssystem und die Rückkehr
Deutschlands in die Mittellage verhindert werden kann, ist
die Eingliederung der mittelosteuropäischen Nachbarn in
das (west-)europäische Nachkriegssystem und eine umfas-
sende Partnerschaft mit Russland. Ein stabilitätsgefährden-
des Vakuum, ein Zwischen-Europa, darf es nicht wieder
geben. Ohne eine solche Weiterentwicklung der (west-)
europäischen Integration könnte Deutschland aufgefordert
werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht
sein, die Stabilisierung des östlichen Europas alleine und in
der traditionellen Weise zu bewerkstelligen“ (Pressedienst
der CDU/CSU-Fraktion 1995).
Das ist eine in Begriffswahl und Semantik nicht unpro-
blematische Rhetorik, und sie stammt nicht etwa aus den
ersten Nachkriegsjahrzehnten, sondern aus der Mitte der
1990er-Jahre. Solche Passagen belegen eindrücklich die
Persistenz historisch belasteter und lagedetermistischer
Argumentationsstrukturen bei jüngeren politischen Vorstel-
lungen über Ein- und Ausgrenzungen in Europa. Sie bilden
keine Einzelfälle. Ganz ähnlich äußerte sich etwa der dama-
lige europapolitische Sprecher der CDU 2002, Peter Hintze.
Er betonte mit Blick auf eine gewünschte Osterweiterung,
dass es „Deutschland nicht gut tut, wenn es praktisch zwi-
schen Ost und West eine eigene Rolle im Spagat hat - wie
es sie hatte im 19. und im 20. Jahrhundert“. Seine Hoffnung
im Zuge der Erweiterungen besteht entsprechend darin,
dass „Deutschland aus dieser Mittellage rauskommt, wenn
unsere Außengrenze nicht gleichzeitig die Außengrenze der
Europäischen Union ist. Wir rücken in die Mitte Europas, wir
verlassen die Mittellage, die eine Schaukellage zwischen
Ost und West ist“. Bezogen auf die Notwendigkeit einer sol-
chen Veränderung „spielen historische, außenpolitische
und sicherheitspolitische Erfahrungen einfach eine große
Rolle“ (Interview geführt im Rahmen eines DFG-Projektes
von P. Reuber, M. Schott und G. Wolkersdorfer 2002).
Obwohl ihr bis heute Teile der alten territorialen Symbo-
lik eines expansionistischen Deutschen Reiches anhaften
(Bassin 1993), greifen nicht nur neokonservative Ordnungs-
vorstellungen mit neuer Beherztheit auf dieses Diskursfrag-
ment zurück. Ähnliche Beispiele ziehen sich durch alle poli-
tischen Parteien. So verwendet auch Joschka Fischer in
seiner „Berliner Finalitätsrede“ den Begriff der „Mittellage“
als außenpolitisches Schreckgespenst, wenn er konstatiert,
dass „die in Deutschlands Dimension und Mittellage objek-
tiv angelegten Risiken und Versuchungen […] durch die
Erweiterung bei gleichzeitiger Vertiefung der EU dauerhaft
überwunden werden können“. Natürlich liegen den konkre-
ten Europavorstellungen von Fischer und den Entwürfen der
bundesdeutschen Neokonservativen unterschiedliche, teil-
weise gegenläufige politische Ziele zugrunde. Was beide
Formen der Argumentation jedoch verbindet, ist die subtile
Macht diskursiver Gewohnheiten, mit der dabei in stiller
Eintracht dieselben alten Mittellagen-Argumentationen als
Begründung ihrer geopolitischen Konstruktionen eines
erweiterten Europa herangezogen werden.
der in der Eigenwahrnehmung bereits vorhandenen
Position als wichtige geopolitische Macht im Konzert
der Nationen (G8, UN-Sicherheitsrat, Rolle in der NATO,
im Commonwealth, im Kontext der spezifischen ameri-
kanisch-britischen Beziehungen). Folgerichtig sollte
nach britischen Vorstellungen die globalpolitische Rolle
der EU neben der weiteren Liberalisierung der gemein-
samen Marktbedingungen auf die Felder Asyl- und
Sicherheitspolitik (Schengen-System) beschränkt blei-
ben, während genuin außenpolitische Felder in der
Zuständigkeit der Nationalstaaten bleiben sollen.
fen worden sind. Deren diskursanalytische Aufarbeitung
und vergleichende Dekonstruktion zeigt, dass sie in vie-
len Fällen in gewisser Weise durchaus ihren Ort und ihre
Zeit haben, das heißt, dass sie historisch und regional
kontextualisiert sind. Dabei lassen sich bezogen auf die
Verwendung raumbezogener Konstruktionsweisen bei
aller Unterschiedlichkeit der Entwürfe konzeptionell
gesehen gewisse Gemeinsamkeiten der Argumentations-
logik festhalten:
Raumbezogene Konstruktionen spielen in histori-
schen w ie aktuellen polit ischen Diskussionen eine
grundlegende Rolle zur Inklusion und Exklusion und
als Ermächtigungsgrundlage für nationales oder
gruppenbezogenes politisches Handeln.
Relevanz von Forschungen über
geopolitische Leitbilder Europas
Raumbezogene Konstruktionen und politisch-geo-
graphische Gebietsabgrenzungen werden vor allem
dann wirksam, wenn sie mit weiteren Dimensionen
aufgeladen werden. Darunter sind vor allem die
Dimensionen Kultur (z. B. Kultur-Raum-Kopplung),
Sicherheit (z. B. Risikosemantik) und - in jüngerer
Die vorliegenden Anmerkungen haben gezeigt, dass in,
über und bezogen auf Europa in den vergangenen zwei
Jahrhunderten eine Fülle unterschiedlicher geopolitisch
relevanter Raumkonstruktionen und Leitbilder entwor-
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