Geography Reference
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struiert Elden in den geopolitischen Imaginationen die-
ser historischen Epoche eine subtile, aber folgenreiche
Verschiebung der Macht- und Zuständigkeitsverhält-
nisse von der (damals noch universalen) geistlichen
Macht auf die sich zunehmend in distinkten räumlichen
Zuständigkeiten organisierende (und damit partikulare)
weltliche Macht.
Für die Umsetzung dieser Entwicklung in politische
Praktiken spielte das räumlich definierte „Territorium“
weltlich-partikularer Macht, wie es zum Beispiel in den
italienischen Stadtstaaten der damaligen Zeit ein erstes
Mal in Erscheinung trat, eine wichtige Rolle. Hier zeig-
ten sich bereits Konturen des neuzeitlichen territorialen
Machtkonzeptes: „The territorium then is not simply a
property of a ruler; nor is jurisdiction simply a quality of
the territorium. Rather the territorium is the object of rule
itself. … This was a causal shift from the personality of
law to the territoriality of law“ (Elden 2011). Elden zeigt
mit seiner Rekonstruktion, dass die territoriale Ordnung
der Moderne sich nicht quasi erdrutschartig und plötz-
lich nach den Wirren des 30-jährigen Kriegs im viel
beschworenen Frieden von Westfalen konstituierte, son-
dern sich vielmehr sukzessive entwickelte. Um die Aus-
differenzierung der gesellschaftlichen Machttechnolo-
gien zu verstehen, die sich in der Regierungsform des
„Territoriums“ im Zuge der Konsolidierung der staat-
lichen Organisationsform der europäischen Moderne
vollzog, reichen nach Elden die politisch-ökonomischen
und die politisch-strategischen Aspekte allein nicht aus.
In die gesellschaftlichen Diskurse im damaligen Europa,
die diese Transformation vollenden, flechten sich zwei
weitere Argumentationslinien. Es handelt sich dabei um
politisch-legalistische und politisch-technische Aspekte.
Zu den politisch-legalistischen Aspekten zählen dabei
„the legal aspects of the relation between sovereignty, juris-
diction and authority with territory“ (Elden 2010). Als
politisch-technische Aspekte territorial organisierter
Formen und Praktiken des Regierens gelten Formen der
raumbezogenen Datenerfassung und Statistik, der Kar-
tographie sowie der Überwachung und Kontrolle, die
die Bevölkerung in dieser Form immer wieder „herstel-
len“, das heißt beobachtbar und regierbar machen, und
für die der Territorialstaat mit seiner klaren Grenze eine
ideale Voraussetzung bot.
Raum hatten auch die staatsorganizistischen Entwürfe
der frühen Politischen Geographie, insbesondere ihres
Gründers Friedrich Ratzel, einen wirkmächtigen Anteil.
Sie bildeten die Grundlage für vielfältige gesellschaftli-
che Praktiken, die in Europa das Großmachtdenken, den
Imperialismus und den Kolonialismus beflügelten.
Ihren historisch unrühmlichsten Auswuchs fanden sie
im deutschen Wahn des Nationalsozialismus, der die
Verkopplung von Volk und Raum für die Praktiken des
Genozids und der deutschen Angriffskriege im Zweiten
Weltkrieg instrumentalisierte. Die historischen Ereig-
nisse dieser Jahrzehnte in der zweiten Hälfte des 19. und
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind in den
Geschichtswissenschaften mannigfaltig, intensiv und
differenziert beschrieben worden. In der vorliegenden
Betrachtung soll es daher erneut darum gehen, vor allem
die geopolitische Konstruktionsweise herauszuarbeiten,
die hinter den machtvollen Diskursen politischer Geg-
nerschaften in Europa stand.
Staatsorganizismus und lagedetermi-
nistische geopolitische Leitbilder
Beginnt man mit der Spurensuche beim staatsorganizis-
tischen Volk-und-Raum-Leitbild von Friedrich Ratzel,
so kann man vor dem Hintergrund der im Rückgriff auf
Elden herausgearbeiteten Linie der Diskursentwicklung
verstehen, warum dessen geodeterministische Konzepte
seinerzeit auf so fruchtbaren Boden fielen. Die Territori-
alstaaten waren nicht nur die Grundlage der in Staaten
und Staatenkonkurrenzen angelegten Politik der dama-
ligen Zeit, sie leisteten auch nationalistischen Identitäts-
konzepten und darauf aufbauenden Legitimationsdis-
kursen der Geopolitik Vorschub. Als wichtigen Baustein
dieser Sichtweise und als unmittelbaren Bezugsrahmen
des geopolitischen Leitbildes vom Staatsorganizismus
benennt Schultz (2001) das länderkundliche Weltbild
der deutschen Geographie im frühen 19. Jahrhundert.
Damals ging man, so Schultz, von der Grundannahme
aus, dass es „neben einer räumlich definierten Fauna
und Flora … auch räumlich definierte Menschengesell-
schaften [gab]. Entsprechend korrelierte man die Konti-
nente mit den Rassen, die Länder mit den Völkern und
die Landschaften mit den Stämmen. […] Eine Nation
wurde daher vom Länderkundler in allen ihren physi-
schen wie geistigen Lebensäußerungen (inklusive Natio-
nalcharakter) als Spiegelbild ihres individuellen Erdlo-
kals aufgefasst. Wer nicht zu dem gewählten Land passte,
der musste (wie ortsfremde Pflanzen oder Tiere) ver-
kümmern oder, wie es später darwinistisch hieß, der ‚tel-
lurischen Auslese' zum Opfer fallen. [… ] Politisiert
wurde dieses Konzept (wie bei Mercier) durch die Fik-
tion, dass die natürlichen Länder potenzielle Staaten
seien, denen sich die realen Staaten, gesteuert durch die
Geopolitische Leitbilder in Europa
in Zeiten des nationalen Wahns
Mit dem Aufkommen des Nationalismus erhielten die
Territorialstaaten eine Komponente, die sie auch in den
kollektiven Identitäten ihrer jeweiligen Bevölkerungen
noch stärker verankerte. An der Begründungslogik, die
diese Form der kollektiven Identität konstruierte, an der
Einheit von Territorium und Nation, von Volk und
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