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unsichtbare Hand der Natur, im Verlaufe der Geschichte
immer mehr annäherten. […] Die Entwicklung der
Staatenwelt war demnach ein teleologischer Prozess, der
sich auf einen von der Natur vorgezeichneten stabilen
Endzustand zubewegte […]“ (ebd.).
Dieser Argumentationsfigur folgend konstruierten
seinerzeit eine Reihe von Geographen die Imagination
„natürlicher“ (und dabei stillschweigend größtmög-
licher) Formen und Erstreckungen ihrer Länder. Solche
naturdeterministisch informierten geopolitischen Re-
präsentationen speisten sie im Rückgriff auf vermeint-
lich homogene und zusammenhängende Raumeinhei-
ten, die mit Bezug auf unterschiedlichste Geofaktoren
konstruiert wurden, von der geologischen Struktur über
das Klima bis hin zu Elementen von Fauna und Flora.
Es war der Politische Geograph Friedrich Ratzel, der
die losen diskursiven Enden des Geo- und Naturdeter-
minismus und des Nationalismus zu einem Knoten
zusammenband, der den jungen Nationalstaaten Euro-
pas eine Essenzialisierung ihrer räumlichen Ontologie
anbot (Abb. 3.4).
Für seine Grundkonzeption entlehnte Ratzel Basis-
konzepte aus der Biologie, übertrug sie in Form von
Analogieschlüssen auf die territoriale Organisation des
Staates und verlieh ihm damit einen quasi-biologischen
Status. Er leitete die gesellschaftlich-politische Ordnung
eines Staates in erster Linie von dessen physischen
Grundlagen ab, während Aspekte wie Kultur, Soziales
und Wirtschaft kaum als relevant angesehen wurden.
Auf diese Weise entstand die Vorstellung vom Staat als
„bodenständigem Organismus“ (Ratzel 1897) mithilfe
einer „biogeographischen Auffassung des Staates“: „So
wird dann der Staat zu einem Organismus, in den ein
bestimmter Teil der Erdoberfläche so mit eingeht, dass
sich die Eigenschaften des Staates aus denen des Volkes
und des Bodens zusammensetzen“ (ebd.). Jeder Staat, so
Ratzel, ist „ein Stück Menschheit und ein Stück Boden“
(ebd.).
Ideen- und zeitgeschichtlicher Hintergrund
Evolutionismus
Sozialdarwinismus
Kolonialismus
Imperialismus
Nationalismus
Volk
(„natürlicher“) Konflikt
mit anderen Staaten
„Auslese“
Tendenz zu Wachstum
durch Ausdehnung
Staat
Boden
(Territorium)
(Raum)
Staatsorganizismus:
Staat als ein mit dem Boden
verwurzeltes „Wesen“
Staatsevolutionismus: Anwendung von
Darwins Evolutionsthesen auf den Staat
sowie die Konflikte zwischen Staaten
Ratzels Kernthesen
Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis der „Politischen Geographie“ Ratzels 1847
Erstes Kapitel.
Der Staat als bodenständiger Organismus. S.1.
1. Der Staat in der Geographie und die biogeographische Auffassung des Staates. 2. Jeder
Staat ist ein Stück Menschheit und ein Stück Boden. 3. Die politische Organisierung des Bodens.
4. Der Boden in der Idee oder Seele des Staates. 5. Politische Lehren der Kontinuität des Bodens
im Staat. 6. Der Staat als Organismus und die Grenze des Organismus im Staat. 7. Das stofflich
Zusammenhängende am Staat ist der Boden. 8. Ein geistiger Zusammenhang des Staates mit dem
Boden. 9. Die letzten Elemente des staatlichen Organismus. 10. Die Organbildung des Staates ist
notwendig beschränkt. 11. Vitale und geographisch wertvolle Teile eines Staates. 12. Wirtschafts-
gebiete nähern sich dem Organhaften. 13. In der Erde selbst liegen notwendige Schranken der
Organbildung.
Abb. 3.4 Ratzels Staatsorganizismus
(verändert nach: Reuber 2012).
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