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nung diesen Erdteil mit seiner Gewalt- und Vernich-
tungspolitik fast zerstört hätte.
Europas Achillesferse ist also, dass es sich kulturell
universal gemacht hat: Es ist überall dort, wo die besag-
ten Werte nebst europäischem Lebens- und Konsumstil
vorherrschen. Hätten diese sich weltweit durchgesetzt,
wäre Europa mit der Welt identisch, und erst unterhalb
dieser globalen Einheit kämen, schichtenspezifisch und
regional differenziert, eigenartige Mischungen und kul-
turelle Differenzen zum Vorschein. Sollte die Türkei am
Ende mit ihrem Antrag auf Aufnahme in die EU schei-
tern, so könnte sie dennoch, wenn sie den Weg der Euro-
päisierung fortsetzt, von sich behaupten, ein Teil des
kulturellen Europas zu sein. Dieses Kultureuropa kennt
keine festen geographischen Grenzen, es hat allerdings,
wie alle Europa- und Raumbegriffe, eine Geschichte, die
sich dem dekonstruierenden Blick erschließt.
Strukturierung eingeschrieben hat, dass man ihren Cha-
rakter als raumbezogene politische Konstruktion, als
eine Form der Architektur gesellschaftlicher Macht bei-
nahe vergessen hat.
Elden (2011) arbeitet heraus, in welcher Form und in
welcher Phasigkeit sich das Konzept territorialer gesell-
schaftlicher Ordnung im Laufe der europäischen
Geschichte entwickelt hat. Eine solche Form der Analyse
ist in der Lage, einen Beitrag zum Verstehen der Ent-
wicklung hin zur europäischen Staatenwelt zu leisten,
die dann im Zuge von Imperialismus und Kolonisierung
zum global akzeptierten Grundprinzip der geopoliti-
schen Organisation der Gesellschaft(en) wurde. Bei die-
ser Analyse tritt zutage, dass sich hinter dem Begriff des
Territoriums in der historischen Entwicklung drei
unterschiedliche Komponenten gesellschaftlicher Praxis
verbergen, die sich in Europa in einem zeitlich angeleg-
ten Spannungsbogen der Diskursentwicklung herausge-
bildet haben:
Das geopolitische Leitbild von Europa
als „Wiege der Territorialstaaten“
eine politisch-ökonomische Komponente, die aus der
inhaltlichen Nähe zum Begriff des „Land“-Besitzes in
römischer und mittelalterlicher Zeit herrührt
Paul Reuber
eine politisch-strategische Komponente, die Paralle-
len zum Begriff des terrains aufweist
Jenseits einer gewissen Einmütigkeit, die übergreifende
kulturräumliche Imaginationen Europas mit ihrem re-
lativen Wertekonsens und ihrem quasi universalen Gül-
tigkeitsanspruch erzeugen konnten, fanden sich in Eu-
ropa eine Reihe geopolitischer Raumkonstruktionen,
die stärker als Formen räumlicher Schließungen fun-
gierten und auf dieser Grundlage zu machtvollen regio-
nalen Leitbildern von Gegensätzlichkeit, Differenz und
Gegnerschaft innerhalb Europas führten. Eine zentrale
diskursive Grundfigur dafür waren die (modernen) Ter-
ritorialstaaten. Diese waren historisch gesehen durch-
aus eine „europäische Erfindung“. Europa ist die „Wiege“
der Territorial- und Nationalstaaten der Moderne.
Deren bis in die Gegenwart reichende Bedeutung ist
kaum zu unterschätzen, stellen sie doch bis heute ein
wesentliches makropolitisches Organisationsprinzip der
globalen Ordnung dar. Die Frage der Staatlichkeit ist
zentral, für Fragen der völkerrechtlichen Souveränität,
für die volle Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen,
für die inter-„nationale“ Handlungsfähigkeit, für die
„außen“-politischen Beziehungen vom Handelspakt bis
zur Kriegserklärung, aber auch für die Organisation der
einzelnen Staatengesellschaften „nach innen“.
Territorialstaatliche Ordnungen, die in vielen Berei-
chen des Lebens als gegebene, quasi-natürliche Form
(voraus-)gesetzt werden, sind eben genau dies eigentlich
nicht. Sie sind weder natürlich noch unveränderlich,
sondern „nur“ eine besonders machtvolle, besonders
hegemoniale Raumkonstruktion, die sich in Sprache
und Praxis in vielfältiger Hinsicht so sehr als vermeint-
lich unhintergehbarer Grundpfeiler gesellschaftlicher
eine politisch-machttechnologische Komponente, in
der das Konzept des „Territoriums“ bestimmte Prak-
tiken des Regierens einer Bevölkerung und entspre-
chende Techniken der Repräsentation umfasst
Diese drei Aspekte überschneiden und durchdringen
sich in der heutigen Lesart des Konzeptes und machen es
zu einer der zentralen Formen raumbezogener politi-
scher Machtausübung (Elden 2011). Seine Herausbil-
dung begann in Europa bereits in römischer Zeit und
entwickelte sich hier bis zum Territorialitätskonzept
moderner Staatlichkeit. Am Anfang der historischen
Entwicklung des „Territoriums“ stand zunächst eine
deutlich andere Bedeutung, die in erster Linie die poli-
tisch-ökonomische Verfügbarkeit von Land adressierte:
„Territory in classical Latin did not mean the land over
which the political unit extended its power. Rather, it was
a simple extent of land, such as the surrounding agricultu-
ral land belonging to a town or a religious order“ (Elden
2011). Territorium war damals ein Konzept, das aus
heutiger Sicht eher dem Begriff des Landbesitzes oder
der Ländereien entsprach. „The border is, here, not the
defining characteristic of the territory, but a secondary
attribute“ (ebd.).
Zu Beginn der Neuzeit trat zum Konzept des Territo-
riums eine stärker militärisch-strategische Bedeutung
hinzu. Entsprechend ergänzten Aspekte und Technolo-
gien der „Raumkontrolle“ die eigentums- und besitz-
rechtlichen Aspekte. Diese berührten zwangsläufig auch
Fragen der Souveränität, des Rechts (auf eigene Recht-
sprechung, auf Gewaltausübung). Diesbezüglich rekon-
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