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als kulturell und wirtschaftlich zusammenhängenden
„anthropogeographischen Erdteil“ aufzufassen, und
bezweifelte, ob die Türkei noch voll dem Orient zuzu-
rechnen sei. Ginge man auch darüber noch hinaus, so
könnten überhaupt alle Gebiete, die von Europäern
erschlossen, kolonisiert und beherrscht wurden, als kul-
turelles Europa bezeichnet werden, wenn man die Vor-
stellung eines räumlichen Zusammenhanges aufgäbe.
Für die Türkei kommt als Besonderheit hinzu, dass
sie, politisch gewollt, nach dem Ersten Weltkrieg ihre
Platzierung in Asien aufkündigte und sich Europa zu-
wandte, das pikanterweise seine Identität nicht zuletzt
aus dem Abwehrkampf gegen das osmanische Vordrin-
gen auf dem Balkan bezogen hatte. Heute ist die Türkei
bei vielen europäischen Institutionen dabei, die bean-
tragte EU-Mitgliedschaft dagegen umstritten. Ihre Geg-
ner argumentieren gerne mit den beiden trennenden
Meerengen - Bosporus und Dardanellen - und kulturell
mit dem Islam. Auch in der älteren Literatur, geographi-
scher wie nichtgeographischer, wurde der Islam als ein
nicht zu Europa passendes starres Glaubenssystem
beschrieben, das für die Verwahrlosung der fruchtbaren
Gegenden des Balkans unter der osmanischen Herr-
schaft verantwortlich sei. Die Türken waren, länder-
kundlich gesehen, ein Steppenvolk, das zu einem Step-
penland gehörte, eben Anatolien, aber nicht auf die
Balkanhalbinsel. Immerhin wurde beiden Räumen eine
wechselseitige Vermittlungsfunktion zugestanden; sie
galten als „Brückenländer“. Die kulturelle Differenz war
damit entschärft. Es gab jedoch parallel, wenn auch nur
vereinzelt, seit Beginn des 19. Jahrhunderts politische
und kulturräumliche Konstruktionen, die die Türkei
und weitere Räume in ihren Europabegriff einbezogen.
Schon länger ist das beschriebene länderkundliche
Denken im Wesentlichen Geschichte. Für die moderne
Geographie sind Raumbegriffe gesellschaftlich produ-
ziert, mithin kulturelle Artefakte, die keine ontologische
Dignität besitzen. Daher verfallen auch die Anhänger
der Kulturerdteile dem Verdikt, einer realistischen
Begriffsbildung zu folgen, statt sie als Konstruktion zu
verstehen, die eine bestimmte Sichtweise spiegelt - mit
Vor- und Nachteilen, aber nicht alternativlos. Besonders
bemängelt wird, dass ihr Raumbild den Interferenzen
einer globalen Kultur nicht gerecht werde.
Sieht man sich nun um, was im aktuellen Europa-
diskurs als typisch europäisch gilt, so tauchen Werte
und Ideale wie Rationalität, Skeptizismus, Menschen-
rechte, Toleranz, Demokratie, Gleichheit, Freiheit und
Rechtsstaatlichkeit auf, die an keinerlei physisch-kultu-
rellen Grenzen Halt machen, ja, dies auch gar nicht sol-
len. Das Dilemma ist offenbar: Wenn diese Werte uni-
verselle Geltung beanspruchen, dann taugen sie nicht
zur Bestimmung der Einzigartigkeit des Kontinents
und der Identität der Europäer. Bleiben sie aber auf
Europa beschränkt, so dürfte ihre Einhaltung durch
Nichteuropäer nicht beklagt oder eingefordert werden.
Mit dem Christentum ist es nicht anders. Abgesehen
davon, dass Europa ohnehin kein geschlossener „Chris-
tenklub“ ist, sondern das Christentum selbst gespalten
auftritt, gehören bereits Millionen Menschen isla-
mischen Glaubens dazu. Darüber hinaus sieht sich
das Christentum bekanntlich als Weltreligion, dessen
Schwerpunkt sich schon längst aus Europa verlagert
hat. Selbst Europas viel gerühmtes historisches Erbe
verzeichnet neben gemeinsamen Zügen auch Risse,
Brüche, Abgründe, nicht zuletzt zwischen Christen.
Unter diesem Gesichtspunkt könnte man geradezu auf
die Idee kommen, Deutschland von Europa auszu-
schließen, weil es unter dem Vorwand einer Neuord-
Staatsgrenzen
Newig (1988)
Newig (1997)
Huntington (1996)
Abb. 3.3 Die Ostgrenze des „Kulturerdteils“ Europa als Bei-
spiel für unterschiedliche Konstruktionsweisen „geokulturel-
ler“ Regionalisierungen und deren arbiträren Charakter (verän-
dert nach Newig 1986, Newig 1997, Huntington 1996).
 
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