Geography Reference
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Konstruktion vermeintlich homogener Einheiten, die
sich nach außen vom „Fremden“ durch eine räumlich
demarkierte Grenze abheben. Auf diese Weise entstehen
imagined communities (Anderson 1991), in denen das
Eigene und das Fremde entlang der räumlichen Dimen-
sion voneinander getrennt sind. Diese ergeben sich durch
ein rückwärts gerichtetes writing history, durch eine
invention of tradition (Hobsbawm 1983), durch die Kon-
struktion einer kollektiv gültigen „Raumgeschichte“, die
eine gemeinsame Identität stiftet. Insgesamt entsteht so
eine gesellschaftliche Ordnung, die in einem ihrer we-
sentlichen Grundprinzipien der Organisation von Macht
und Herrschaft nach dem Prinzip einer territorial trap
funktioniert (Agnew 1994).
Von diesem Fundament ausgehend analysiert die
Politische Geographie das Zustandekommen und die
prinzipielle Umkämpftheit solcher räumlicher Ordnun-
gen, und in diese Richtung zielen auch ihre Fragestel-
lungen im Kontext von Reflexionen über geopolitische
Leitbilder und Ordnungen in Europa:
Welche historischen und aktuellen raumbezogenen
Vorstellungen und Konzepte verbinden sich mit
Europa?
Wie wird Europa in unterschiedlichen geopolitischen
Leitbildern hergestellt, wie weit reicht es, wie werden
Grenzziehungen begründet?
Nach welchen Prinzipien wurden und werden in
Europa politische Räume gesellschaftlich konstruiert
(z. B. Territorial- und Nationalstaaten)?
In welche politischen Einflusszonen wird Europa
gegliedert, welche geopolitischen Binnendifferenzie-
rungen werden angeboten?
Abb. 3.1 Im Jahr 1570 erstellte Sebastian Münster eine Euro-
pakarte der besonderen Art. Das Festland von Europa wird
dabei wie eine Königin dargestellt. Kopf und Brust bilden die
seinerzeit als „europäische Kernräume“ repräsentierten Regio-
nen Spanien, Gallien und Germanien, während als „Fußberei-
che“ dieser „Europa Regina“ eher die östlich anschließenden
Regionen dargestellt werden.
Wie wird speziell das Verhältnis von Europa und der
Europäischen Union argumentativ ausgestaltet, wel-
che Grenzen und Erweiterungsmöglichkeiten werden
diskutiert, welche Diskurse geopolitischer Notwen-
digkeiten und Gefahren bilden die Begründungs-
rhetoriken entsprechender Leitbilder?
waren. Sie reichen - den wechselhaften zeitgeschicht-
lichen Rahmenbedingungen folgend - von stärker Rich-
tung Osten weisenden Varianten (Beginn des Jahrhun-
derts bis zum Zweiten Weltkrieg; Abb. 3.1) über eine Art
„Westruck“ der (westeuropäischen) Europavorstellun-
gen in der Zeit des Kalten Krieges (Sperling & Karger
1989) bis zu einer Renaissance wieder weiter nach Osten
blickender Regionalisierungen nach 1989. So sieht bei-
spielsweise Ruppert bereits Anfang der 1990er-Jahre die
„neuen Konturen“ Europas bis weit in die Nachfolge-
staaten der Sowjetunion reichen (Ruppert 1993, Volk-
mann 1993).
Vor diesem Hintergrund geht es dem nachfolgenden
Kapitel nicht um eine politisch-geographische Konflikt-
geschichte Europas, sondern darum, an historisch zen-
tralen Beispielen zu zeigen, welche Rolle geopolitische
Repräsentationen, Leitbilder und Diskurse bei der Kon-
struktion des Eigenen und des Fremden in Europa ge-
Bei der Auslotung von Fragen wie diesen wird sowohl
historisch gesehen als auch bezogen auf aktuelle Dis-
kussionen klar, wie sehr auch in Europa die kursieren-
den Weltordnungsvorstellungen und daraus abgeleitete
Politiken durch geopolitische Leitbilder „informiert“
und geprägt werden. Sehr deutlich tritt dabei hervor,
dass die Suche nach der Gestalt Europas oder einer
Europäischen Union weder mit politischen noch mit
wissenschaftlichen Mitteln ein „objektiv richtiges“ Ziel
finden kann (Fassmann 2002, Schultz 2004). „Was zu
Europa gehört, ist eine Frage von politischen, histori-
schen, kulturellen Deutungen, und diese sind ver-
schiebbar“ (Krause 2004).
Der Blick in die Geschichte zeigt, wie schwankend,
dynamisch und wenig einheitlich politische Raumkon-
struktionen und Regionalisierungen in Europa sind und
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