Geography Reference
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spielt haben und welche Argumentationslogiken dieses
angeleitet haben. Von einer solchen Perspektive aus las-
sen sich auch die mannigfaltigen politischen Praktiken,
Krisen und Konflikte tiefgründiger verstehen, die häufig
in direkter oder indirekter Form durch entsprechende
Repräsentationen legitimiert werden. Der Reigen der
Beispiele beginnt sinnvoller Weise bei einer Herleitung
der tief in die hegemonialen kollektiven Diskurse einge-
schriebenen kultur-räumlichen Repräsentationen Euro-
pas und beleuchtet danach die Entstehung des für die
Geschichte Europas ebenso zentralen territorial- und
später nationalstaatlichen Leitbildes gesellschaftlicher
Organisation, an dessen Konstruktion die frühe Politi-
sche Geographie in den Zeiten von Imperialismus und
Kolonialismus einen ebenso entscheidenden wie histo-
risch problematischen Anteil hatte. Nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges prägte dann das Leitbild vom Kal-
ten Krieg mit seinem „Eisernen Vorhang“ durch Europa
die politischen Geographien des Eigenen und des Frem-
den in einer besonders dualen Art und Weise. Auch diese
Form der politischen Raumkonstruktion soll kurz vor-
gestellt werden. Ein letzter Schwerpunkt der Betrach-
tung liegt dann auf den sich nach 1989 entfaltenden geo-
politischen Leitbildern Europas, die sich nach dem
Aufbrechen der diskursiven Klammer des Kalten Krieges
in vielfältiger Weise rekonfiguriert haben und sich bis
heute durch eine starke Dynamik im Spannungsfeld his-
torischer Rückbezüge und neuer Konfigurationen aus-
zeichnen.
nannte Eurasierbewegung, die Russland als einen Raum
sui generis präsentierte, der zwischen Europa und Asien
vermittle. Als Generalnenner der europäischen Kultur
wurde (und wird heute von der EU) in unterschiedlicher
Gewichtung das Verhältnis von Einheit und Vielheit
betont, ferner Individualismus und Idealismus. Auch
Ideen zu einem politisch vereinten Europa kamen regel-
mäßig auf, sei es als pluralistisches oder stärker zentra-
listisches Konzept bis hin zu totalitären Vormachtan-
sprüchen in der NS-Zeit. Als Gegenbild zum Selbstbild
dienten vielfach Asien und Amerika, das eine als
Schreckbild der Formlosigkeit, des Kollektivismus, aber
auch des Chaos, das andere als Hort eines extremen
Materialismus und einer zügellosen Freiheit. Im Einzel-
nen gab es jedoch mancherlei Differenzierung. Ein ech-
ter Grenzdiskurs findet sich in den literarischen Europa-
Essays allerdings nicht.
Anders bei den Geographen des 19./20. Jahrhun-
derts: Manche von ihnen nahmen die gängige Abgren-
zung aus purer Gewohnheit hin, andere empfahlen
Varianten und eine dritte Gruppe war inhaltlich davon
überzeugt, dass die physischen Räume innerhalb des
bekannten Rahmens, also mit Russland (ohne Sibirien),
zugleich kulturelle Einheiten seien und trotz der brei-
ten Verbindung Europas mit Asien ein eigenes geschlos-
senes System bilden würden, bei dem die nebenein-
anderliegenden, aber zusammenwirkenden Glieder ein
Ganzes abgäben. Dieser Position liegt eine bestimmte
Auffassung vom Verhältnis von Natur und Kultur zu-
grunde. Unterscheidet man die Kultur von mensch-
lichen Kollektiven nach zwei Hauptbedeutungen - ein-
mal als Inbegriff von Mentalitäten, Fähigkeiten und
Gewohnheiten, zum anderen als die durch Arbeit zur
Kulturlandschaft umgestaltete Natur - so interessierte
den Geographen vor allem dieser zweite Aspekt, ohne
den ersten zu vernachlässigen; denn die Eigenschaften
von Völkern galten in der Länderkunde, soweit sie
nicht auf die „Rasse“ zurückgeführt wurden, als mitbe-
dingt durch die Landesnatur.
Natur und Kultur waren jedoch in der älteren Geo-
graphie nicht scharf voneinander getrennt, denn das
Material der physischen Welt, der Stoff, der erst durch
die Arbeit seine kulturelle Gestalt bekam, enthielt nach
länderkundlichem Verständnis bereits eine kulturelle
Bestimmung. Und so musste auch die Erdoberfläche mit
ihren spezifischen Bedingungen an der Herausbildung
des kulturellen Europas (wie der anderen Kontinente)
und seiner Rolle in der Weltgeschichte beteiligt gewesen
sein. Dazu zählte man seine Lage in der Mitte der Land-
halbkugel, seine einmalige Küstengliederung durch
Halbinseln, Inseln, Binnenmeere, Buchten und enge
Meeresstraßen, seine reichhaltige innere Gliederung bei
einem Fehlen von unübersteigbaren Hindernissen, sein
gemäßigtes, abwechslungsreiches Klima und - entschei-
dend - die dazu passende geistig bewegliche Bevölke-
Europa als kultur-räumliches Projekt
Hans-Dietrich Schultz
Jahrhunderte hat es gedauert, bis sich Europas geogra-
phische Grenzen diskursiv stabilisiert hatten. Nur lang-
sam setzten sich im 19. Jahrhundert Ural (Gebirge und
Fluss), Kaspisches Meer, Schwarzes Meer und Kaukasus
durch, doch blieben Alternativen weiterhin im Ge-
spräch. Hinzu kam der Grundsatzstreit, ob Europa
überhaupt ein selbstständiger Kontinent sei oder nur
von Eurasien gesprochen werden dürfe.
Gegenläufig zu dieser Tendenz, das geographische
Europa zu einer auslaufenden Spitze Asiens, einer Halb-
insel, herabzustufen, kam es seit etwa Mitte des 19. Jahr-
hunderts zu einer von Schriftstellern getragenen Bewe-
gung, die Europa nicht physisch, sondern kulturell
definierte. Sie setzte auf ein „christliches“ Europa, ohne
von der griechisch-römischen Antike als Fundament der
europäisch-christlichen Kultur zu lassen, doch gab es
Zweifel, ob England und mehr noch das orthodoxe
Russland dazugehörten. Mentalen Abstand nahmen
aber auch die Engländer selbst, und in Russland ent-
stand parallel zu solchen Ausschlusspositionen die soge-
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