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Die gesellschaftliche
Konstruktion politischer
Räume und geopolitische
Leitbilder in Europa
der Welt einschneidend verändert. Michel Foucault
(1926 - 1984) zeigt in der historischen Ableitung der
Entstehung der gouvernementalen Ordnung der Gegen-
wart, welche entscheidende Rolle dabei dem territoria-
len Prinzip, der Herausbildung der europäischen Diszi-
plinarstaaten in Ablösung des Prinzips souveräner,
stärker genealogisch-klientelistisch verfasster Formen
der Regierung zukam.
Entsprechend ist die Geschichte Europas geradezu
gekerbt von Konflikten und Kriegen um die territoriale
Ordnung. Sie waren hier so vehement, kompromisslos
und hart, dass sie mehrere Male die ganze Welt in
Brand setzten. Es gibt keine Gräueltaten, weder kollek-
tiv noch individuell, die hier nicht vorgefallen wären.
Um kollektive Gewaltpraktiken in einem solchen Aus-
maß entfesseln zu können, müssen sich die Gegner in
ihren Vorstellungen und Weltanschauungen sehr hart,
sehr kategorisch und sehr kompromisslos gegenüber-
stehen. Dazu braucht es gesellschaftliche Vorstellungen
über das jeweils Eigene und das Fremde, über das ver-
meintlich Gute und das Böse. Und diese Vorstellungen
waren in der territorialen Machtarchitektur Europas in
starkem Maße räumlich angelegt, als wirkmächtige geo-
graphical imaginations bzw. als geopolitische Leitbilder.
Diese geopolitischen Imaginationen sind auch in
Europa nicht - wie frühere Generationen Politischer
Geographen gerne gedacht haben - von natürlichen
Gegebenheiten und Grenzen abhängig. Sie sind weder
objektiv festgeschrieben noch in irgendeiner Weise kau-
sal aus der Natur ableitbar. Alle entsprechenden Argu-
mentationen können immer und eindrücklich durch
Gegenbeispiele belegt werden. Große Flüsse waren in
der Geschichte Europas in wechselvollen Kontexten mal
Grenze, mal zentrale Lebensader eines einheitlichen
Handelsraumes (z. B. der Rhein). Große Gebirge haben
nicht immer Gesellschaften „natürlich“ voneinander
getrennt, sie konnten fallweise auch der Bezugspunkt
kraftvoller regionaler Ökonomien und Gesellschaften
sein (z. B. die Passstaaten in den Alpen wie Tirol oder
Savoyen). Vor diesem Hintergrund lassen sich anstelle
deterministischer Vorstellungen die räumlichen Struk-
turierungsformen des Gesellschaftlichen erkenntnisthe-
oretisch angemessen nur als gesellschaftliche Konstruk-
tionen begreifen. Ernst nehmend, dass Grenzen soziale
und politische Ordnungen sind (Newman & Paasi
1998), also das Ergebnis von kontextuellen, historisch
fließenden Aushandlungsprozessen darstellen, besteht
das Kerninteresse auch der Forschungen über die politi-
schen Geographien Europas darin, die gesellschaft-
lichen, insbesondere politischen und medialen Prakti-
ken zu untersuchen, mit denen territoriale Identitäten
entworfen und mit Grenzen versehen werden (Paasi
2003). Diese Konstruktion raumbezogener Identitäten
und Territorien folgt einigen Grundprinzipien: Durch
die purification of space (Sibley 1988) kommt es zur
Hans Gebhardt und Paul Reuber
Die gesellschaftliche Konstruktion politischer Räume in
Europa hat einen langen Entwicklungspfad, in dem sich
die Repräsentationen vom Eigenen und Fremden, von
Freunden und Feinden, von Verbündeten und Gegnern
vielfältig und einschneidend verschoben haben. Dies
lässt sich bereits an der geopolitischen Verortung und
Rolle Deutschlands in Europa exemplarisch ablesen.
War beispielsweise im 19. Jahrhundert und bis in den
Zweiten Weltkrieg hinein aus deutscher Perspektive das
Nachbarland Frankreich noch der „Erbfeind“, so ist es
heute ein sehr enger Partner, mit dem die Bundesrepu-
blik gemeinsam das Projekt einer zunehmenden Inte-
gration der EU vorantreibt. Ähnliche starke Verände-
rungen in der (geo-)politischen Repräsentation hat -
wenngleich später einsetzend - das deutsch-polnische
Verhältnis durchlaufen. Die geopolitische Verortung
und Rolle der Bundesrepublik durch die Nachbarstaaten
ihrerseits ist ein beredtes Beispiel dafür, wie stark auch
in aktuelle politische Prozesse und Krisen die Erfahrun-
gen aus der Geschichte und die mit ihr verbundenen
Diskurse und historischen Ängste hineinwirken - ein
Phänomen, dass durch deutschtümelige Phrasen an den
rechten politischen Rändern der Bundesrepublik zusätz-
lich befördert wird. Wie stark aktuelle politische Pro-
teste durch solche historischen geopolitischen Kon-
struktionen und Ressentiments informiert sein können,
zeigen gegenwärtig Teile der deutschlandkritischen Pro-
teste im krisengeschüttelten Griechenland.
Zur Rolle politisch-geographischer
Raumkonstruktionen in Europa
Paul Reuber
Auseinandersetzungen um Formen der territorialen
Ordnung und Repräsentation haben in Europa eine
lange Tradition und führten dort immer wieder in der
Geschichte zu Konflikten und Kriegen. Europa ist -
etwas überspitzt formuliert - als „Wiege der National-
staaten“ der Prototyp einer solchen Form gesellschaft-
lich-politischer Organisation, von hier aus hat dieses
Konzept seinen „Siegeszug“ über den gesamten Globus
hinweg angetreten. Es wurde zum Erfolgsmodell, zu
einem zentralen Faktor gesellschaftlicher Machtaus-
übung, und es hat dabei die politischen Geographien
 
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