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ben einerseits aufgrund des oben schon erwähnten tro-
ckenen Klimas und wegen des Wachstums in der Höhe
eine besondere Qualität. Mit einigen anderen Landwirt-
schaftsprodukten aus den Alpen haben sie zudem
gemein, dass sie gegenüber dem Anbau im Flachland
zeitlich versetzte Erntezeitpunkte haben. Sie können als
frische Erdbeeren auf den Markt gebracht werden, wenn
die meisten anderen Anbaugebiete die Saison bereits
abgeschlossen haben.
Die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit Südtirols
hat von dieser umfassenden Ausrichtung der regionalen
Landwirtschaft auf die europäischen Märkte profitiert.
Galten die Dörfer im Vinschgau und in seinen Seitentä-
lern noch bis in die 1950er-Jahre als „Armenhäuser“ und
Abwanderungsgebiete, so lag das Bruttoinlandsprodukt
(zu laufenden Marktpreisen) der Region Bozen 2008 an
der Spitze Italiens, noch vor der Region Lombardei mit
dem Wirtschaftszentrum Mailand (Eurostat 2011).
Solche Formen der landwirtschaftlichen Produktion
sind in der Regel bezüglich des notwendigen Wissens
der Akteure hoch spezialisiert, zum Beispiel bezüglich
des Anbaus ebenso wie der gesetzlichen und marktüb-
lichen Anforderungen an eine standardisierte Produk-
tion. Sie erfordern zunehmenden Kapitalaufwand zur
Aufbereitung der Produkte für den Markt sowie gute
Verbindungen zum Markt selbst, eine Industrie der
Vermarktung und Weiterverarbeitung des Obsts: Ver-
marktungsorganisationen und Großmärkte, Konfek-
tionierer, Verpackungsstationen, Speditionen sowie
eine gut funktionierende Logistik. Typische Elemente
solcher Landschaften sind deshalb nicht nur die An-
bauflächen selbst, die Beregnungsanlagen und die
Wasserspeicher, sondern ebenso Maschinenstationen,
Lagerhallen, Versteigerungs-/Markthallen und die An-
schlüsse an internationale Verkehrswege. Sie sind als
Produkte eines Wirtschaftssystems natürlich zeittypi-
sche Kulturlandschaften, die Indikatorwert für den
integrierten europäischen Wirtschaftsraum haben.
Damit entsteht eine Verbindungslinie zwischen den
Walser- und Schwaighofsiedlungen, die vom Absatz
ihrer Produkte auf den Märkten im Tal abhängig waren,
und den heutigen oft monostrukturierten Agrarland-
schaften einer spätindustriellen Gesellschaft im Sinne
einer konsequenten Weiterentwicklung der räumlichen
Arbeitsteiligkeit. Die finanziellen und technischen
Mittel, der Einsatz von Energie und anderen Ressourcen
zur Entwicklung und Umgestaltung der Kulturland-
schaften sind seit dem Mittelalter um ein Vielfaches grö-
ßer geworden und werden tendenziell auch weiterhin
größer, wie sich häufig an der Beanspruchung der Res-
source Grundwasser zeigt. Die Linie besteht auch in der
Steuerung des Geschehens durch Akteure in verschiede-
nen Skalen. Wurde bereits oben erwähnt, dass die
mittelalterlichen Grundherren die Kolonisation in den
Höhenregionen ihres Herrschaftsgebiets förderten, so
wäre im Fall der hoch professionellen Umgestaltung der
Südtiroler Agrarlandschaft ebenfalls zu fragen, ob nicht
auch Akteure von außerhalb der Region Interesse an die-
ser Entwicklung hatten und sie entsprechend gesteuert
haben. Will man sie räumlich analog definieren, wären
sie zum Beispiel in den Absatzgebieten für das Obst zu
suchen.
Europäische Kulturlandschaften?
Die „Erdbeerregion“ von Huelva oder das Obst- und
Gemüseanbaugebiet von Almería (Südspanien), in
denen die Landschaft in hohem Maße von Gewächshäu-
sern bedeckt sind, sind eindrucksvolle Beispiele für die
agrarische Ausrichtung peripherer Regionen auf Märkte
in den wirtschaftlichen Kernräumen der EU. In dieser
Art Kulturlandschaft lässt sich die Begegnung von
Sicherheits- und Risikoperspektiven, die über die Nut-
zung von Räumen und Distanzen gelöst werden,
demonstrieren: Die Regionen sind einerseits Aufnahme-
und Durchgangsstationen für Menschen, die aus der EU
(v. a. Rumänien), Nordafrika (v. a. Marokko) sowie Süd-
amerika zuwandern, und dort häufig unter prekären
Bedingungen leben und arbeiten (Lindner 2008), um
Risiken ihrer eigenen Existenz zu verringern. Sie sind
andererseits Orte, die durch den Einsatz von Kapital und
Technik so umgestaltet wurden, dass die Risiken von
Produktionsausfällen oder des Anteils von Produkten,
die der Markt wegen der Abweichung von Standards
nicht aufnehmen würde, möglichst gering wurden. Dies
alles wiederum geschieht unter einem Anspruch von
Verbrauchern, die die Sicherheit wollen, frisches Obst
und Gemüse auch zu Zeiten konsumieren zu können, in
denen es an ihren eigenen Wohnorten nicht produziert
werden kann - eine Art Risikomanagement, das jenseits
einer existentiellen Sicherung angesiedelt ist.
Während man die Sicherungsstrategien der Migran-
ten und auch der Unternehmer vor Ort argumentativ
mit Chancen auf Beteiligung am gesamteuropäischen
Wirtschaftsmodell verknüpfen kann, sind die regionalen
Probleme der Übernutzung des Grundwassers, der Aus-
schwemmung von Pestiziden, der wilden Entsorgung
von Plastikabfällen, aber natürlich auch der Ausbeutung
von Arbeitskräften mit illegalem Status plausibler mit
einem sehr asymmetrischen Machtverhältnis zwischen
Zentrum und Peripherie zu beschreiben: Solche Kultur-
landschaften sind demnach Indikatoren einer Siche-
rungsstrategie des Zentrums für Güter, die ihren Wert
auf dem Niveau der hoch urbanisierten, spät- oder
postindustriellen Gesellschaft erhalten haben. Unter sol-
chen Vorzeichen lassen sich auch die Handelsabkom-
men der EU mit Marokko interpretieren, die in der
Region Souss bereits seit den 1970er-Jahren zur Ausbil-
dung einer Landschaft des intensiven Gemüse- und
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