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Die traditionelle, vorindustrielle
Landwirtschaft
Verfahren und Praktiken vor Ort liegen, wie das Beispiel
des Getreideanbaus an der Höhengrenze in den franzö-
sischen und den Schweizer Hochalpen zeigt: Da die
Vegetationszeit dort sehr kurz ist, war es nötig, den Rog-
gen, der als Brotgetreide wichtig war, bereits im Spät-
sommer/Frühherbst auszusäen. Ab Herbst waren die
Triebe dann mit Schnee bedeckt und überstanden auch
harten Frost schadlos. Um die Felder im Frühjahr, wenn
noch Schnee lag, schneller der Sonnenstrahlung auszu-
setzen, wurden sie mit Asche oder Erde bestreut. Die
höhere Albedo des dunklen Materials sorgte dafür, dass
der Schnee ausaperte, also schneller schmolz, sodass das
Wintergetreide sich früher weiterentwickeln konnte.
Dennoch kam es immer wieder vor, dass das Getreide
geerntet werden musste, bevor es völlig reif war. Für
diese Fälle gab es an den Südseiten der Bauernhäuser
große Galerien aus Holz, auf denen das Getreide im
Frühherbst zur Trocknung und zum Nachreifen ausge-
legt oder aufgestellt wurde (Monheim 1951). Derartige
kleinteilige Anpassungen findet man in vielen Agrar-
landschaften Europas, wie ein weiteres Beispiel von Mat-
tendächern in Süditalien illustrieren mag: Sie schützen
Zitronenblüten gegen Spätfröste im Frühjahr (Abb. 2.59).
Deutlich größerer Aufwand, um die lokalen Ertrags-
bedingungen zu beeinflussen, wird in „Bewässerungs-
landschaften“ betrieben. Sie gibt es aus klimatischen
Gründen vor allem in Südeuropa, aber auch, wo man sie
weniger vermuten würde, in den Zentralalpen. Die dor-
tigen Täler haben aufgrund ihrer räumlichen Isolierung
gegenüber feuchten Luftmassen häufig sehr geringe
Niederschläge. Da zugleich die Einstrahlung aufgrund
von Höhenlage und Lufttrockenheit sehr hoch ist, steigt
auch die Verdunstung der Pflanzen. So entsteht in der
Vegetationszeit für viele Agrarprodukte, insbesondere in
der Grünlandwirtschaft ein Wasserdefizit, das durch
Bewässerung ausgeglichen werden muss. Das größte
System von Bewässerungskanälen, die auch heute noch
zum großen Teil funktionieren, befindet sich im west-
lichen Südtirol, im sogenannten Vinschgau (Fischer
1974): An den südexponierten Hängen entlang ziehen
sich kilometerlang Wasserkanäle, Waale genannt, die zur
Bewässerung des Kulturlandes genutzt werden. Der Ver-
lauf ist im Landschaftsbild gut zu erkennen: Während
oberhalb das Kulturland im Sommer graugrün bis
braun wird, bleiben die bewässerten Wiesen unterhalb
stets satt grün (Abb. 2.58). Zu den Geopotenzialen die-
ser Region gehört, dass die Kanäle aufgrund der Schnee-
und Gletscherschmelze ausreichend Wasser führen.
Der Wechsel von unterschiedlichen Anbaubedingun-
gen auf geringer horizontaler, aber großer vertikaler
Distanz führte zu anderen Lösungen des Anpassungs-
problems in der Berglandwirtschaft im Wallis: Bis in die
1950er-Jahre waren dort Wirtschaftsformen üblich, die
sich über mehrere Höhenstufen erstreckten. Der für die
Alpen so typische Zweistufenbetrieb, mit einem Haupt-
Die traditionelle, vorindustrielle Landwirtschaft ist
nicht zuletzt dadurch geprägt, dass sich in ihr zwei Stra-
tegien der Risikominimierung mischen: Dies ist zum
einen der Versuch, die vorhandenen Geopotenziale opti-
mal zu nutzen, und zum anderen, sie vor Ort in einem
gewünschten Sinne zu verändern, allerdings unter im
Vergleich zu heute einfachem Energie- und Kapitalein-
satz. Zur optimalen Nutzung gehört vor dem Hinter-
grund eines Strebens nach Selbstversorgung eine mög-
lichst breite Produktpalette, um die Ernährungsbasis des
weitgehend von der eigenen Landwirtschaft abhängigen
Haushalts vielfältig gestalten zu können. Allerdings
kann die Diversifizierung von Anbauprodukten selbst
auch eine Strategie zur Risikominderung in Schadens-
fällen sein, indem möglicherweise die Produkte unter-
schiedlich betroffen sind, weil sie zu unterschiedlichen
Zeiten im Jahr reif werden bzw. auf unterschiedliche
Ausprägung beispielsweise der Klimafaktoren wie Tem-
peratur und Niederschlag angewiesen sind. Das Wissen
um solche Zusammenhänge beeinflusst die Bewertung
von Standortpotenzialen der Landwirtschaft in hohem
Maße.
Aus der langfristigen Mischung der genannten Stra-
tegien - und aus einer Reihe anderer Faktoren, die hier
nur nachrangig betrachtet werden sollen - entstanden
überall in Europa Landschaften, die auf den heutigen
Betrachter besonders faszinierend wirken. Sie sind meist
vergleichsweise kleinteilig gestaltet, enthalten oft vielfäl-
tige, selten gewordene Landschaftselemente, die Zeug-
nisse eines vergangenen Stands der Technik, aber auch
einer altertümlich anmutenden Anpassung an natur-
räumliche ebenso wie wirtschaftsräumliche Bedingun-
gen sind.
Risikominimierung durch lokale
Maßnahmen der Anpassung
Die Bevölkerung in Europa wuchs, mit wenigen Aus-
nahmen, seit dem Mittelalter in rasch zunehmendem
Maße (Kapitel 6). Eine Reaktion darauf war die Koloni-
sierung neuer Siedlungsräume, die in immer höherem
Maße sorgfältige Anpassungsleistungen in der Bewirt-
schaftung erforderten. Dies betraf Erfahrungen hin-
sichtlich der Gefährdung von Siedlungsstandorten
selbst, zum Beispiel durch Erdrutsche und Bergstürze,
vor allem in Gebirgen, oder durch Überschwemmungen
in den Flussniederungen und an Küstenstandorten; aber
auch die Landwirtschaft entwickelte in dieser Zeit Spezi-
alisierungen, die den Erfahrungen der Anbausituation
an den neuen Standorten Rechnung trugen, um Ertrags-
ausfälle so gering wie möglich zu halten. Sie können in
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