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hoch gestapelte Pappkartons. Diese Leute waren wie menschliche Ameisen - unglaublich
stark. Ich musste daran denken, wie ich mich früher über das Gewicht der Zeitungen mit
all den Werbebeilagen beklagt hatte, die ich als Kind im Viertel hatte verteilen müssen, und
bekam ein schlechtes Gewissen.
Es waren Hunderte von Rikschafahrern unterwegs, und jeder einzelne hielt vor mir an
und fragte, ob ich irgendwohin wollte, was es nicht einfacher machte, weil ich ja nicht
wusste, ob einer von denen Ashek war. Nach vierzig Minuten tauchte er schließlich auf.
Er entschuldigte sich für die Verspätung. Ihm sei unwohl gewesen, sagte er. Für einen so
jungen Kerl sah er verdammt müde aus. Sein Englisch war nicht gerade berauschend, aber
immerhin besser als mein Indisch.
Ashek fuhr mich herum, und ich bekam immer mehr schlimme Dinge zu Gesicht. An je-
der Straßenecke schienen Menschen mit nur einem Arm oder Bein oder Fuß zu hocken.
Dann nahm Ashek mich mit zu seinem Boss, dem all die Rikschas gehörten. Er wollte mir
beibringen, selbst eine zu fahren. Ich kann gut Fahrradfahren, insofern war ich gerne bereit,
es zu versuchen. Er sagte, wir sollten die Fahrstunde lieber auf einem Platz namens »Staub-
kessel« machen, eine weite freie Fläche mit vereinzelten Grasbüscheln zwischen überwie-
gend Staub und Schutt. Das Verhältnis Gras zu trockener Erde war ungefähr so wie das von
Haar zu Haut auf meinem Schädel. Kinder spielten Kricket und Fußball, Familien saßen
zusammen und unterhielten sich, und ein paar ärmere Leute lagen herum und schnüffelten
Kleber.
Ich versuchte es mit der Rikscha und war eigentlich der Ansicht, dass ich mich ganz gut
schlagen würde, aber der Boss meinte, er würde mich durch die Prüfung fallen lassen, weil
ich zu schnell gewesen sei und zu wenig gelächelt habe. Lächeln ist mir noch nie leicht-
gefallen, und außerdem ist Indien nun nicht gerade das Land, in dem man viel Grund zum
Lächeln hätte. Außerdem lässt man lieber seinen Mund zu, sonst fliegen einem Fliegen hin-
ein.
Anschließend lud Ashek mich zu sich nach Hause ein, wo er abends Hühnchenspieße
verkauft. Wir schlängelten uns durch schmale, enge Gassen, die mit verrottendem Fleisch,
Innereien, Blut und Hühnerkadavern gesäumt waren. Je tiefer wir in das Viertel vordran-
gen, umso dichter wurde die Fliegenpopulation. Als ich noch Kind war, lungerte mal eine
Fliege so oft bei uns herum, dass wir sie quasi in die Familie aufnahmen. Meine Mum tauf-
te sie Harry, die Hausfliege. Sie unterschrieb sogar in Harrys Namen auf einer Unterschrif-
tenliste, mit der ich damals unterwegs war. Ich dachte damals, Harry würde sich bei uns
bestimmt tierisch wohlfühlen, aber inzwischen weiß ich, dass der ultimative Aufenthalts-
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