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Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie so ein Opfertag hier vonstattengegangen sein
muss. Ich nehme an, weil sie nicht viel anderes zu tun hatten, sind die Leute in Massen her-
beigeströmt. Der Audioguide hat leider nicht verraten, wie genau dieses Kopfabschlagen
abgelaufen ist, aber ich stelle es mir so vor: Am Fuß der Pyramide versammeln sich die
Zuschauer. Ganz oben an der Spitze der Pyramide wird das Opfer geköpft, und der Kopf
kullert dann an einer Seite die Stufen hinunter. Das macht es für die Zuschauer womög-
lich sogar noch spannender: Haben sie die richtige Seite der Pyramide für ihren Beobach-
terposten gewählt? Eine Art Murmelbahn wäre für dieses Spektakel noch besser geeignet
gewesen. So hätte jeder Besucher von jeder Position aus eine gute Sicht auf den kullernden
Kopf gehabt.
Ungefähr um 8 Uhr kamen die ersten Touristen auf das Gelände. Mir fielen ein paar
Fremdenführer auf, die ihre Reisegruppen dazu animierten, vor der Pyramide in die Hände
zu klatschen. Das Resultat war ein eigenartiges Echo, das ich erst für Zufall hielt, aber einer
der Reiseführer erklärte, dass dies gewollt sei. Die Pyramide sei genau so konstruiert wor-
den, weil das Echo dem Ruf des heiligen Vogels der Maya, des Quetzals, ähnele.
Leider hörte von diesem Augenblick an das Klatschen nicht mehr auf. Kein Wunder, dass
Elton John hier auftreten wollte. Es ist wahrscheinlich der einzige Ort auf der ganzen Welt,
an dem er diesen König-der-Löwen- Song »Circle of Life« spielen kann und dafür Applaus
erntet.
Ich kehrte den anderen Touristen den Rücken und entdeckte bei meinem kleinen Spazier-
gang ein weiteres Cenote, wie das, in dem ich gestern schwimmen war. Dem Audiogui-
de zufolge stellten die Cenotes den wichtigsten Wasserlieferanten für die Maya dar. Eine
Theorie zu ihrer Entstehung besagt, dass vor Millionen von Jahren Meteoriten die Erde ge-
troffen hätten. Offenbar haben sie in diesen Cenotes ebenfalls Menschen geopfert.
Während ich mir das Wasserloch ansah, bemerkte ich, dass es um mich herum von Ei-
dechsen nur so wimmelte. Und zwar von großen. Ich fütterte eine von ihnen mit einem
Stück Keks. Es schien ihr zu schmecken. Am Ende verputzte sie zwei ganze Kekse.
Da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: Ich hatte auf dieser Reise die Rolle
mit einer Eidechse getauscht. Diese Eidechse hier aß meine Kekse, während ich mich statt-
dessen von Grillen, Würmern und Wespenlarven ernährte. Wahrscheinlich haben die Maya
nie in ihrem Leben Kekse gegessen. Diese Eidechse jedoch hatte jetzt das Vergnügen ge-
habt.
Später im Hotel entdeckte ich, dass das Zimmermädchen das angebissene Milky Way auf
dem Beistelltisch liegen gelassen hatte. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das zum wie-
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