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von Erwartungen und Annahmen ergänzt. Lesen ist also schon auf der
Wahrnehmungsebene ein konstruktiver Vorgang. In psychologischen Unter-
suchungen zum Lesen kann man eine Menge über das Verstehen des Ge-
lesenen erfahren, indem man sich die Saccaden-Sprünge und die Fixa-
tionsdauer genauer ansieht. Beides ist von sprachlichen und inhaltlichen
Faktoren abhängig und bietet einen Einblick in die kognitive Verarbeitung
beim Lesen.
Flüssiges Lesen besteht allerdings nicht darin, dass man sehr schnell
Buchstabe für Buchstabe erkennt und diese zu Wörtern zusammensetzt.
Wörter, die dem Leser bekannt sind, werden vielmehr als Ganzes erkannt,
gewissermaßen als Bilder. 36 Damit nähert sich der geübte Leser einer Alpha-
betschrift dem einer logograischen Schrift wie dem chinesischen Schriftsys-
tem an: Beide nehmen die Darstellung eines Wortes in der Schrift als Sym-
bol für das Wort insgesamt, für dessen Bedeutung und seine Lautfolge. Nur
wenn der Leser der Alphabetschrift das Wort nicht kennt, wechselt er in ein-
en anderen Modus und erschließt das Wort aus der Abfolge der einzelnen
Buchstaben. Die Fähigkeit zum Wort-Lesen selbst in Sprachen mit Alpha-
betschriften erklärt übrigens auch, warum Rechtschreibreformen ein so
hitzig debattiertes Thema sind: Zwar wird die Kritik meistens mit sprachsys-
tematischen oder traditionalistischen Argumenten geführt, dahinter steht je-
doch nicht selten die Ablehnung des Aufwands, der notwendig ist, um un-
sere Gehirne auf die neuen Wort-Bilder umzuprogrammieren.
Diese Art des Lesens kann man vergleichen mit dem Verfolgen der Fährte
eines Tieres auf dem Erdboden: Die Abdrücke in der Fährte sind Zeichen für
etwas anderes, ein Lebewesen, und sie verläuft auf einer Linie wie die
Wörter in einem Text. Sicherlich hat die menschliche Fähigkeit des Fährten-
lesens, die schon in der Steinzeit einen Vorteil darstellte, etwas mit der
Fähigkeit zum Lesen zu tun. Lesen besteht aber nicht nur aus dem Entzif-
fern einer linearen Zeichenkette - wir haben im vorigen Abschnitt gesehen,
dass auch die Fläche, auf der das Geschriebene erscheint, uns etwas aus-
zudrücken vermag. Sie trägt mit nicht-sprachlicher Bedeutung zur Gesamt-
bedeutung des Textes bei. Wir erschließen diese Bedeutung der Fläche so
wie sich unsere Vorfahren eine Landschaft ansahen. Bei ihnen ging es nicht
um die Frage, ob diese Landschaft schön oder hässlich war, sondern sie
»lasen« sie mit ganz bestimmten Interessen: Wo könnte eine Wasserstelle
sein? Wo ein geschützter Platz für eine Behausung? Welche Areale wären
besser zu meiden, weil es dort keine Fluchtmöglichkeiten gibt, und wo wäre
Schutz möglich? Welche Bereiche könnten Lebensräume für gefährliche
Tiere sein, und wo ist Nahrung zu inden?
 
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