Information Technology Reference
In-Depth Information
auf jede neue Generation wartet deshalb eine Menge Arbeit, um durch sehr
viel Übung das Gehirn zum Gebrauch der Schriftsprache zu programmieren.
Dabei werden getrennte Strukturen, die für die Sprache und das Sehen
zuständig sind, miteinander verknüpft - ein eigentlich höchst unnatürlicher
Vorgang. Der Leseforscher Stanislas Dehaene nennt den Menschen daher
den »Primaten, der lesen kann«, und meint damit, dass sich die Gattung
Mensch ausgehend von kognitiven Anlagen, die ursprünglich für ganz an-
dere Zwecke entstanden sind, das Lesen selbst beigebracht hat, in einem
mühevollen, Jahrtausende währenden Prozess. Dabei hat sich der Mensch
die Schrift nach und nach so modelliert - etwa was das Aussehen der
Schriftzeichen betrift -, dass er sie mit seinen unter den Bedingungen der
Steinzeit ausgeprägten geistigen Voraussetzungen überhaupt erfassen und
verarbeiten kann. 32
Das Lesen setzt die Sprache voraus. 33 Für die Schichtung der sprach-
lichen Symbole auf Laut-, Wortteil-, Wort- und Satzebene baut jeder Mensch
während seines Spracherwerbs ein intuitives Verständnis auf. Die Sprac-
herziehung vertieft und beschleunigt dieses Verständnis: Abzählreime,
rhythmische Lieder, Klatschen und ausgeprägte Intonation fördern im kind-
lichen Gehirn den Aufbau von Wahrnehmungsstrukturen für die Sprache.
Schon Kindergartenkinder haben Abermillionen von Wörtern gehört, so dass
sich ihre Gehirne darauf eingestellt haben. Ein fünfjähriges Mittelschichts-
kind, dem viel vorgelesen wird, kann dabei allerdings schon einen Vorteil
von mehr als 30 Millionen Wörtern gegenüber einem Kind aufweisen, dem
nicht vorgelesen worden ist. 34 Mit den gehörten Wörtern verbinden sich
Menschen, Tiere und Dinge, Gefühle, Erfahrungen und Geschichten - kurz:
Bedeutungen. All dies ist das sprachliche Kapital, mit dem das Lesenlernen
arbeitet.
Die zweite Voraussetzung ist die visuelle Wahrnehmung, das Sehen. Mit
den Augen gleiten wir nicht kontinuierlich über eine Folge von
Schriftzeichen hinweg, sondern in kleinen Sprüngen, den sogenannten Sac-
caden. 35 Die Länge dieser Sprünge beträgt durchschnittlich etwa acht Buch-
staben. Dazwischen liegen Ruhephasen, in denen für durchschnittlich etwa
eine Viertelsekunde eine Textstelle betrachtet wird (Fixationen). Der Grund
für dieses Vorgehen beim Lesen liegt darin, dass es auf der Netzhaut nur
einen sehr kleinen Bereich gibt, auf dem Reize präzise registriert werden -
wirklich klar erkennbar ist gerade einmal der Fixationspunkt selbst, mit ab-
nehmender Klarheit dann noch vier bis fünf Zeichen links und rechts vom
Fixationspunkt. Durch die Sprungbewegungen beim Fixieren von Textstellen
bleiben aber die dazwischenliegenden Teile unscharf; sie werden anhand
 
Search WWH ::




Custom Search