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Vielleicht ist es ja diese uralte Fähigkeit des Menschen, die die Grundlage
dafür bildet, in einem Text mehr zu sehen als nur ixierte Sprache. Vielleicht
ist dies der Grund, weshalb die Textläche wie eine Landschaft von Bedeu-
tungen gelesen werden kann. Wo erfahre ich etwas über das Thema? Was ist
wichtig, was ist unwichtig? Was interessiert mich besonders, und in welcher
Reihenfolge gehe ich beim Lesen vor? Die lesepsychologische Forschung hat
eine Menge herausgefunden über die Prozesse beim sprachlichen, linearen
Lesen, aber kaum etwas zum nicht-sprachlichen Lesen in der Fläche. Sacca-
den weisen hier nicht eine bestimmte Richtung und Distanz auf, der Leser
muss vielmehr entscheiden, in welcher Reihenfolge und was er auf der Text-
läche ixiert - es gibt also sehr viel mehr Möglichkeiten. Das lineare Lesen
mit seinen gleichmäßigen Saccaden ist dabei nur ein Teil des scheinbar un-
systematischen, in großen und kleinen Sprüngen in alle Richtungen erfol-
genden Lesens einer Textläche.
Untersuchen kann man dies mithilfe der Aufzeichnung von Blickbewegun-
gen. Dabei erfährt man nicht nur, wie Versuchspersonen etwa eine Zeitungs-
seite mit den Augen durchwandern, die Zeitungsmacher selbst können
dadurch erfahren, ob ihr Textdesign »funktioniert«. Solche Untersuchungen
interessieren deshalb weniger die Psychologen als vielmehr die Medienwis-
senschaftler. Hans-Jürgen Bucher hat mit seinem Team an der Universität
Trier die Blickbewegungen von Zeitungslesern aufgezeichnet. 37 Er hat
herausgefunden, dass besonders hervorgehobene Gestaltungselemente wie
Fotos oder Kästen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, allerdings in Ab-
hängigkeit von ihrer Platzierung auf der Seite. Noch wichtiger aber ist Buch-
ers Erkenntnis, dass die Leser beim Durchwandern der Seite mit den Augen
ganz unterschiedliche Wege gehen. Diese Wege sind beeinlusst vom Vorwis-
sen, den Interessen, dem Alter, dem Geschlecht oder der Erfahrung im
Umgang mit Zeitungen im Allgemeinen. Voraussagen lässt sich aber nicht, in
welcher Reihenfolge ein bestimmter Leser die Seite betrachten wird. 38 Legt
man jedoch das Blickverhalten von allen Versuchspersonen übereinander,
dann sind Schwerpunkte der Aufmerksamkeit deutlich zu erkennen. All das
zeigt, dass der Leser einer Zeitung eine recht komplizierte Aufgabe zu lösen
hat, bei der immer wieder Entscheidungen zu trefen sind: Wo beinde ich
mich auf der Zeitungsseite? Wohin blicke ich als nächstes? In welchem Ver-
hältnis stehen die Elemente auf der Seite zueinander? 39 Das Lesen einer Zei-
tung ist deshalb am besten beschreibbar als ein Wechselspiel, eine Interak-
tion von Leser und Medium - der Leser hat bestimmte Probleme zu lösen,
die Zeitung gibt durch ihre Gestaltung Hinweise darauf, wie dies erfolgen
kann.
 
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