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Vernunft entstehen können? Es ist undenkbar, einen derartigen, Hunderte
von Seiten umfassenden philosophischen Gedankengang allein im Kopf zu
entwickeln und mündlich weiterzugeben. 12 Liegt so ein Werk aber schriftlich
vor, kann es auch verbreitet und in anderen Köpfen lesend nachvollzogen
werden. So wie Ackerbau, später Handwerk und Technik unsere Lebenswelt
mit physischen Gütern ausstattet und damit Handlungsweisen prägt, so stat-
ten Kulturtechniken unsere geistige Welt mit kulturellen Gütern und Denk-
weisen aus.
Diese Eigenschaft von Kulturtechniken entspringt einer inneren Logik von
Schrift. Die Schrift bildet keineswegs nur eins zu eins ab, was gesprochen
wird, sondern besitzt als Zeichensystem eigene Gesetzmäßigkeiten. Beson-
ders gut kann man dies an Schriftsystemen sehen, die gar nicht für die Dok-
umentation von Sprache gedacht sind, zum Beispiel das Schriftsystem der
Mathematik. Die Logik dieser Schrift besteht darin, Zahlen so darzustellen,
dass man mit einfachen, grundlegenden Rechenoperationen sehr umfan-
greiche Berechnungen durchführen kann. Die Addition zweier zehnstelliger
Zahlen können die allerwenigsten Menschen im Kopf vornehmen - wie man
solche Zahlen jedoch schriftlich addiert und dabei noch nicht einmal bis 30
zählen können muss, lernen Kinder bereits in der Grundschule.
Auch die Schrift, mit der wir natürliche Sprache ixieren, besitzt Geset-
zmäßigkeiten, welche aus der Schrift als Zeichensystem selbst hervorgehen
und nicht aus der Sprache. Wortzwischenräume zum Beispiel gibt es nicht in
der gesprochenen Sprache, der Lautluss verläuft ohne Unterbrechungen.
Wortzwischenräume und auch die Großschreibung bei Hauptwörtern im
Deutschen haben die Aufgabe, das Lesen zu erleichtern, sind also nicht Teil
der gesprochenen Sprache. Würden wir überhaupt einen Begrif für »Wort«
haben, wenn wir Wörter nicht als das sehen könnten, was zwischen zwei
Leerstellen im Text erscheint? 13 Und auch die Buchstaben, die wir in der
Schrift nutzen, sind nicht einfach nur das Abbild von Lauten der gesprochen-
en Sprache. Im orthograischen System des Deutschen sind Herkunft und
Zusammenhang von Wörtern erkennbar, und auch das unterstützt den Lese-
und Verständnisprozess jenseits der gesprochenen Sprache. Wir schreiben
eine völlig identische Lautfolge mal als »Feld« und mal als »fällt«, um
dadurch rein visuell zwei ganz unterschiedliche Wörter zu bezeichnen. Das
»d« am Ende von »Feld« wird exakt wie das »t« in »fällt« ausgesprochen,
und auch die Vokale »e« und »ä« sind hier identisch. In einem Wort wird die
Kürze des Vokals mit einem Doppel-L markiert, im anderen nicht. Warum
gibt es diese Unterschiede? In »fällt« sollen wir beim Lesen das Verb
»fallen« erkennen, und in »Feld«, dass es sich um ein Nomen handelt,
 
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