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Kapitel 2
Die Kulturtechniken Lesen und
Schreiben
Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Morgens auf und können nicht mehr
lesen und schreiben. Sie haben es komplett verlernt und können auch Buch-
staben nicht einzeln zu Wörtern zusammensetzen, es sind für Sie nur noch
geometrische Gebilde ohne Sinn und Bedeutung. Eine schreckliche Vorstel-
lung! Auf einen Schlag werden Sie Ihren Alltag kaum noch bewältigen
können. Zwar können Sie sich noch problemlos Ihr Frühstück zubereiten,
doch schon der Blick auf Ihr brummendes Handy, wo eine Nachricht
eingegangen ist, wird Sie ratlos machen. Sie werden nicht verstehen, wer Sie
kontaktiert hat und warum, und Sie werden noch nicht einmal antworten
können, denn Sie können ja auch nicht schreiben. Wer auch immer Ihnen ges-
chrieben hat, wird denken, dass Sie die Nachricht nicht erreicht hat oder Sie
sich bewusst nicht zurückmelden. In der U-Bahnstation werden Sie nicht die
richtige Linie identiizieren können, und wenn Sie dann doch Ihre Arbeitss-
telle erreicht haben sollten, können Sie vermutlich nicht sehr viel machen -
alles hat mit Schrift, Lesen und Schreiben zu tun. Wollen Sie abends ins Kino
oder ins Theater gehen, werden Sie die Programme nicht verstehen und on-
line keine Karten reservieren können, und beim Abendessen im Restaurant
können Sie die Speisekarte nicht entzifern. Nahezu alles, was uns umgibt, ist
irgendwie an Schrift gekoppelt, und der Verlust der Fähigkeit, sie nutzen zu
können, kommt einer sozialen Katastrophe gleich - im Beruf, im persönlichen
Umfeld, für die Teilhabe an der sozialen und medialen Welt und für die
Bewältigung des Alltags insgesamt.
Es gibt Menschen, die erleiden genau dies. Ein Schlaganfall löscht die
Fähigkeit des Lesens und Schreibens aus. Meist ist dies verbunden mit halb-
seitigen Lähmungen und der Beeinträchtigung der Sprache, der sogenannten
Aphasie. 9 Durch Alexie, den Verlust der Lesefähigkeit, und Agraie, den Ver-
lust der Schreibfähigkeit, erleben die Betrofenen, dass es nicht nur ein iso-
liertes Problem für sie ist, diese Fähigkeiten zu verlieren, sondern sich ihnen
dadurch auch die soziale und kulturelle Welt verschließt, die gesellschaftliche
und politische Teilhabe. Schrift ist also ein Schlüssel zu unserer Kultur. Aus
diesem Grund werden Lesen und Schreiben als Kulturtechniken bezeichnet,
 
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