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Carrara-Marmor
„Diese Art Marmor ist von größerer Festigkeit, sie ist angenehmer und weicher zu bear-
beiten, und man kann ihr eine schönere Polierung geben, als jeder anderen Marmorart“ ,
schwärmte Giorgio Vasari 1499 vom weißen Gold der Apuanischen Alpen - rein che-
misch gesehen nichts weiter als doppelt kristallisierter Kalk. Als die Region vor 200 Mil-
lionen Jahren noch vom Meer bedeckt war, setzten sich abgestorbene Muscheln und
Schalentiere ab und verfestigten sich im Lauf von Jahrmillionen zu Kalkstein. Die extre-
me Hitze im Gefolge der großen Kontinentalverschiebung vor 40 Millionen Jahren
presste ihn zu hartem Kristall, der unter ungeheurem Druck zugleich zusammen- und
nach oben geschoben wurde und sich zu einem Gebirgsmassiv aufwarf - der Marmor
der Apuanischen Alpen war geboren. Aber Marmor ist nicht gleich Marmor, und kei-
neswegs jeder ist so weiß wie der begehrte blasse Statuario Michelangelos. Eingelagerte
metallische Salze sprenkeln, masern oder flecken den ursprünglich schneeweißen Stein
grünlich, hellgrau, bläulich, rötlich oder auch mischfarben wie den dekorativen Mischio
von Stazzema, der besonders in der Barockzeit Verwendung fand. Insgesamt zählt man
allein in Carrara über 60 verschiedene Sorten Marmor.
Die Sklaven Kleinasiens, die ihn für die
Villen, Tempel und Denkmäler der Römer
abbauten, trieben Holzpflöcke in Bohr-
löcher und übergossen sie so lange mit
Wasser, bis sie sich dehnten und den
Block vom Berg sprengten. Mittels Seilwin-
den wurden die tonnenschweren Blöcke
auf eingeseifte Rundhölzer gehievt und an
langen Hanfseilen ins Tal herabgelassen,
eine Prozedur, bei der Todesfälle und
grausige Verstümmelungen an der Tages-
ordnung waren, wenn die gigantischen
Quader einmal außer Kontrolle gerieten. Bis zu zehn-, ja zwanzigspännige Ochsenkar-
ren besorgten den Weitertransport bis zum Hafen von Luni. Noch eineinhalb Jahrtau-
sende später, zu Zeiten von Donatello und Michelangelo, wurde der Marmor kaum an-
ders gewonnen und transportiert. Erst im 19. Jh. revolutionierten neuartige Sägetechni-
ken den Abbau, übernahmen Aufzug- und Seilbahnkonstruktionen den Transport und
wurde eine 20 km lange Eisenbahntrasse bis zur Küste gebaut. Heute wird mit moderns-
ter Großtechnik gearbeitet - elektrische Diamant- und Edelstahlsägen schneiden pro
Stunde bis zu 15 qm Marmor aus dem Berg, und PS-starke Bagger heben die 20-40 t
schweren Blöcke auf Sattelschlepper, die sie zum Hafen von Marina di Carrara bringen,
von wo sie in alle Welt verschifft werden. Noch heute leben fast zwei Drittel der Ein-
wohner Carraras mittelbar oder unmittelbar vom „weißen Gold“. Von den rund
200.000 t Stein, die jeden Monat in Umlauf kommen, ist der Löwenanteil für die Bauin-
dustrie bestimmt (und nur etwa 1 Promille für „Kunst“), und während der Abbau selbst
seit einigen Jahren stagniert, blühen umso mehr Verarbeitung und Import/Export-Ge-
schäfte. Da es nirgendwo auf der Welt ein derartiges Know-how in dem hochspeziali-
sierten Umgang mit Marmor und Granit aller Art gibt, wird das edle Gestein selbst aus
Afrika, Zentralasien und Südamerika nach Carrara verschifft, um hier geschnitten und
bearbeitet zu werden. Trotzdem sind noch heute mehr als 100 Steinbrüche rund um die
Gemeinden Carrara und Massa aktiv und versorgen Bankpaläste, Luxushotels, U-Bah-
nen und Airports rund um den Globus mit repräsentativem Luxus.
 
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