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Es war enorme Geschicklichkeit vonnöten, wollte man keine Fehler machen und die Steine oder Scher-
ben ohne Übertreten oder andere Verstöße gegen die Spielregeln von der Hölle durch das Fegefeuer
oder Purgatorium bis in den Himmel, das Elysium, befördern. Man konnte sie auf dem Handrücken, auf
dem Fußrist, auf dem Kopf oder auch blind mit dem Kopf im Genick, auf einem Bein hüpfend, in den
Himmel bringen. Einbeinig zu hüpfen und zweibeinige Kehrtum-Grätschen zu machen bedurfte mit den
jeweiligen Scherben oder Steinen auf dem Kopf oder dem Handrücken - kobaltblau, weiß marmoriert
oder kunstvoll bunt bemalt - einer großen Konzentration und geschickter Körperbeherrschung.
NacheinerWeilejedochmeintediefünfjährigeGerti,esseiheuteirgendwielangweilig,undwolltenicht
mehr mitspielen. Ihre Mutter, Fanny Schickler, die Frau vom Schickler-Ferdl, fing gerade damit an, für
den morgigen Sonntag einen Gugelhupf zu backen, und das war lockender als das Spiel mit uns Buben.
Für Gerti war es der höchste Genuss, Zucker zu schlecken, die Gugelhupfform aus feuerfester Tonerde
mit Butter auszuschmieren und dann, am Ende, wenn der Gugelhupf gebacken war, die überstehenden
Krusten abzuknabbern, und dieses Vergnügen wollte sie sich nicht entgehen lassen.
IhredreiBrüderwarenschonzurStelle.Siewolltendasselbe -auchnaschenundschlecken.Gertimuss-
te sich beeilen, noch etwas abzubekommen. Ohne die Gerti wollte nun auch die Mitzi nicht mehr mit-
spielen, nur zu zweit machte es keinen richtigen Spaß mehr, und so schlenderten Franz und ich allein
über das frisch gekehrte, lehmig-erdige Trottoir, unsere kobaltblauen oder weiß marmorierten Scherben
in den Händen oder Hosentaschen, und machten eine abendliche Runde durch unser Hundertseelendorf.
Die Schicklerkinder - Gerti, Josef, Johann und der kleine, geistig behinderte Emmerich mit dem flach-
runden Gesicht - wohnten im Haus schräg gegenüber von unserem und waren genauso arm wie wir.
Wenn meine Schwester und ich wussten, dass Mutter einen Kuchen backen wollte, gingen wir, um uns
ja nicht auch nur einen einzigen Krümel entgehen zu lassen, schon Stunden vorher nicht mehr aus un-
serer kleinen Küche mit dem Resopalplattentisch und dem Blick in den Hof, in dessen Mitte der Mist-
haufen thronte. An besonderen Feiertagen goss Mutter über den Kuchen noch eine weiße Zuckerglasur.
Dersüß-säuerlicheGeschmackdieserGlasurerinnertemichschonandieweißundrosaglasiertenWeih-
nachtskekse am Christbaum - selbst wenn es noch Sommer war.
Der sechs Wochen alte Gottlieb schläft in der Abendsonne
AmSamstagabendgegensechsUhrlegtesicheinleichterregtesfeierlichesWohlgefühlaufmeineSeele.
Diese Abende in unserem Dorf genoss ich in meiner oftmals unglücklichen Kinderzeit in vollen, für
Augenblicke befreienden Zügen. Die Burschen hatten ihre abgetragene und verschmutzte Feldkleidung
abgelegt und gegen andere, nicht festliche, aber bessere Kleidung getauscht. Oft war es nur das karierte
Hemd, das einem blauen oder weißen einfarbigen Hemd Platz machte. Manche hatten sich rasiert und
dieHaaremitPomadeeingefettet.DiereifenMädchenwuschensichdieHaare,erneuertenihreFrisuren,
hatten modische Faltenröcke angezogen und die Schuhe frisch geputzt. Wenn sie auf der Straße gingen,
bewegten sie die Hüften kokett hin und her - was sie unter der Woche bei der Arbeit auf dem Feld nie
taten - und ihre braungebrannten Gesichter lächelten neckisch.
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