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Glasscherben, kobaltblau oder weiß marmoriert
Am liebsten waren mir in meiner Kindheit die lauen Spätsommer-Samstagabende im Dorf. Da wurde
das lehmig-erdige Trottoir vor dem Haus von den jungen Bauernmädchen und Bauernmägden, die sich
für diese Arbeit blaue Kopftücher und ebenso blaue Schürzen umgebunden hatten, mit ihren aus Reisig
zu Buschen zusammengebundenen Riadlbesen fein säuberlich gekehrt, indem sie in schnellem Tempo
Schritt für Schritt und von links nach rechts vor sich her fegten. Die großen und die kleinen Steinchen,
die sich die Woche über dort angehäuft hatten, flogen nun auf die angrenzende Straße oder unten an die
Hausmauer. Der braune Erdboden war dann ganz glatt und frei von Steinchen, Zweiglein und anderem
Kleinmist. Das Trottoir sah wie frisch gewaschen aus.
WirKinder nahmen jetzt ein Holzsteckerl undzeichneten die Vorlage zum Tempelhüpfen auf.Nicht wie
den üblichen Spielregeln entsprechend, ein Rechteck unterteilt in links und rechts jeweils drei gleich
großeQuadrate,dieobenunduntennochzweiRundbögenerhielten,obenfürdenHimmelunduntenfür
dieHölle,währenddieQuadratedazwischendasFegefeuerwaren.Nein,wirmachten,demkatholischen
Glauben hörig, ein Kreuz aus sechs Quadraten: vier von oben nach unten und, am zweiten Quadrat von
oben ansetzend, links und rechts jeweils eines seitlich, dazu oben und unten wieder die Rundbögen für
Hölle und Himmel.
Jedes von uns Kindern hielt einen Fundus von bunten Glasscherben bereit. Meine Lieblingsfarbe war
Kobaltblau. Meine kobaltblauen Scherben stammten von einem alten Lampenschirm, den mein Groß-
vater, der Vater meines Stiefvaters, zerbrochen hatte, als er in angetrunkenem Zustand in der Küche mit
einem Holzprügel nach mir warf, sein Ziel aber verfehlte, so dass der heftige Schlag stattdessen den es-
stellergroßen, flachen Lampenschirm über dem Küchentisch traf, der sodann, in verschiedene kleinere
und größere kobaltblaue Teile zersprengt, auf unseren mit einer grün gesprenkelten Resopalplatte be-
klebten Küchentisch herabregnete. Diese prächtigen blauen Scherben hatte ich gleich gehortet - sobald
dies gefahrlos möglich war. Sie waren nicht nur wunderschön, sondern auch sehr nützlich: Mit den grö-
ßeren konnte man die Sonnenfinsternis gut beobachten, die sich schon zwei Wochen später ereignete,
und die kleinen waren bestens fürs Tempelhüpfen geeignet.
Während ich meine kobaltblauen Lampenschirmbruchstücke hatte, war mein Schulkamerad und Freund
Franz Huberka mit weißen Milchglasscherben gekommen, die mit schwarzen Fäden durchzogen waren,
was ihnen ein marmorähnliches Aussehen gab. Die Mädchen Gerti und Mitzi wollten auch mitspielen,
siehattenkleineellipsenförmigeSteine,diesieselbstkunstvollbuntbemalthatten.Esgalt,einenKampf
zu bestehen. Die Mädchen, die andauernd vor sich hin kicherten und sich unentwegt gegenseitig etwas
ins Ohr flüsterten, um daraufhin prompt erneut zu kichern, durften beginnen. Normalerweise losten wir
aus,weranfangendurfte.Dochheute,andiesemmildenSamstagabend, andemdieBauernmädchen mit
ihren Riadlbesen das Trottoir vor dem Haus so fein säuberlich gekehrt hatten, waren wir Kavaliere und
gaben den Mädchen großzügig den Vortritt - in der Hoffnung auf gelegentliche Vergeltung dieser „Gna-
de“ in irgendeiner Form.
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