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Tränen aus den Augen wischte: „Morgen fahre ich zur Großmutter.“ Womit sie die Großmutter mütter-
licherseits meinte, die in Petronell an der Donau wohnte.
Am nächsten Tag kam meine Schwester nach der Schule nicht nach Hause. Mit einer roten Weste und
einem grauen Kittel bekleidet, hatte sie stattdessen den nächsten Zug Richtung Wien bestiegen und sich
in der Zugtoilette eingeschlossen, weil sie kein Geld für das Billett hatte. In Wien wollte sie in einen
anderen Zug umsteigen, der sie zur geliebten Großmutter nach Petronell bringen sollte. Doch am Franz-
Josefs-Bahnhof wurde sie, aufgrund ihrer einfachen ländlichen Kleidung und der Schultasche auf dem
Rücken auffällig, von der patrouillierenden Polizei aufgegriffen und wieder nach Hause gebracht.
Als mein Stiefvater, ihr leiblicher Vater, sie sah, nahm er sie bei den blonden langen Zöpfen und schlug
siesoheftigmiteinemLederriemen,dassdieStriemenanArmenundBeinenplatztenundbluteten.Wie
immer war meine Mutter in ihrer Ohnmacht nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen oder gar das Un-
glück zu verhüten.
Als die Striemen heilten, blieben Narben zurück, die meine Schwester unter den heruntergezogenen Är-
meln ihres Kleides verbarg.
Es gab Wurstaufschnitt vom Fleischhacker Krautmeier
DerGroßvatermütterlicherseitswarmitdemletztenFrachtzugausderrussischenGefangenschaftheim-
gekommen - er hatte Glück gehabt. Er wohnte mit meiner Großmutter in einem kleinen Haus in Petro-
nell, das etwa hundert Meter von der Donau entfernt stand. Wann immer er Zeit hatte, ging er fischen.
Eines Sonntagvormittags, als er gerade dabei war, einen großen Wels an Land zu ziehen, brach ihm die
Kurbel für die Angelschnur ab. Als er daraufhin versuchte, den Wels an der Schnur mit bloßen Händen
anLandzuziehen,verlorerdasGleichgewicht undfielinsWasser.Eineüberraschende Wellerissihnin
die Strömung, und da er nicht schwimmen konnte, ertrank er. So erzählte es jedenfalls meine Großmut-
ter. Seine aufgequollene Wasserleiche wurde sechs Wochen später in Albern an der Donau gefunden.
Die Besuche bei Großmutter liebte ich. Sie war ein gutmütiger und lieber Mensch, jedenfalls mir ge-
genüber. Ihr neuer Lebenspartner Karl, auch er ein Fischer, war starker Alkoholiker und täglich betrun-
ken. Im betrunkenen Zustand war er sehr rabiat. Wenn er mit völlig zerzaustem Haar schimpfend und
torkelnd ins Haus kam, versuchte meine Großmutter ihn zu beruhigen, indem sie ihn mit Stricken und
Schnüren an Händen und Füßen fesselte. Im Gegensatz zu ihrer Tochter, meiner Mutter, die ebenfalls
miteinemoftbetrunkenenundrabiatenMannzusammenlebte,nahmGroßmutterdieBeleidigungenund
ErniedrigungenihresKarlsnichteinfachtatenlosduldendhin;dahatteihreGutmütigkeitGrenzen.Karl,
weit davon entfernt, sich zu beruhigen, wehrte sich dann mit großem Geschrei, abstehenden Haaren und
rot angelaufenem Gesicht, indem er sie laut und unentwegt „Mörderin“ und „Bestie“ schimpfte.
GanzausdemHausjagtesieihnnicht.WennichbeimeinenBesuchenaufdemfürmichunangenehmen,
unbezogenen Diwan im Zimmer lag, hatte ich große Angst vor dem vom Dach her kommenden Lärm.
Ein unheimliches Geräusch, blechern, kratzend, scheppernd. Ich stellte mir allerlei Einbrecher, Untiere
undGespenstervor.Oderwaresderbetrunkene,polterndeKarl,derdorttobteundgleichauchzumirin
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