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etwa einem Quadratmeter Durchmesser freigestampft, um zugleich eine gute Sicht und einen geschütz-
ten Platz zu haben. Auf meinen Knien hatte ich einen Notizblock liegen, den ich auf dem Dachboden
von Frau Millinger gefunden hatte, als ich wieder einmal im Kabinett von Stefan, dem jüngeren Sohn,
der nach Sankt Pölten ins Kolpinghaus gezogen war, hatte übernachten dürfen, und in der Hand hielt
ich einen Bleistift, mit dem ich die Nummern aller vorbeifahrenden Autos in den Block notierte. Die
von unserem Hundertseelendorf her kommenden Fahrzeuge konnte ich schon sehen, wenn sie um die
scharfe Linkskurve an der winzigen Kapelle mit der Pietà kamen. Jede Autonummer, die nicht ein N als
vorangestellten Buchstaben, sondern ein S wie Steiermark oder ein V wie Vorarlberg oder irgendeinen
anderen Bundesland-Anfangsbuchstaben hatte, war eine Besonderheit. Ausländische Nummern waren
eine Sensation, um die ich von meinen Freunden, dem Huberka-Franz und dem Meidler-Max, beneidet
wurde.
Manchmal machte ich eine kleine Pause und ging in den Friedhof hinein, um das Grab, unser Grab, zu
besuchen.EswarganznahamEingangaufderanderenSeite.AufderStirnseiteeinschwarzundsilbern
angemaltesgusseisernesKreuzmiteinerrundenNamenstafeldrauf.Allesziemlichverwildert.Niemand
in der Familie hatte für Grabpflege viel Zeit und Sinn. Ein paar dürre Gräser und vereinzelt irgendwel-
che wildwachsenden Gänseblümchen. Großvater lag tief unten in der kalten Erde. Kurz nach ihm war
dann auch Großmutter gestorben. Beides die Elternteile des Stiefvaters.
Der Vater meines Stiefvaters hatte eine ähnliche Brutalität an den Tag gelegt wie sein Sohn. Am 5. De-
zember, einen Tag vor Nikolaus, war Krampustag. Der Krampus ist, ähnlich wie Knecht Ruprecht, ein
Begleiter von Nikolaus, der die unartigen Kinder bestraft. Am Krampustag erschien der Großvater mit
einer Rute aus Reisig sowie einem groben Jutesack. Er stopfte mich in den Sack, um dann mit kräftigen
Hieben auf den Sack einzuschlagen. Danach nahm er den Jutesack mit mir darin und steckte ihn in eine
Holzbutte.MeineverzweifeltenAngstschreiestacheltenihnnurmehrundmehran,underfandGefallen
an meinen Todesängsten.
Als er starb, empfand ich es als eine Erlösung. Eines Morgens wollte er nicht, wie sonst immer, um
fünf Uhr früh aufstehen. Kurz nach Mittag begann er zu röcheln und zu schwitzen und wirre, unzusam-
menhängende Worte zu murmeln, bis er schließlich nur noch reglos dalag. Meine Mutter ließ den Dr.
Meinrath rufen, der leuchtete mit einer Taschenlampe dem Großvater in die Augen, zupfte danach ei-
ne Gänsedaune aus der Tuchent, legte sie dem Großvater unter die Nase und sagte schließlich, dass der
Großvater nicht mehr atme und tot sei. Die Augen weit aufgerissen, den dicken Oberlippenbart mit zä-
hemNasensekretbeschmiert,lagerinseinemBett.MeineMutterbegannzuweinenundholtedieganze
Familie und wir stellten uns ans Bett, um zu beten. Mein erster Gedanke war: Nun kann er mich nicht
mehr schlagen und quälen und mit Holzprügeln nach mir werfen.
Inzwischen hatte meine Mutter ihr schwarzes Kleid angezogen und dem Toten auf beide Augenlider je
ein Zwanziggroschenstück gelegt, damit sie zublieben. In der Kammer, wo sich unser Brotbackofen und
daneben ein Loch für die kleine Räucherei - die Selch - befand, wurde er auf ein breites Eichenbrett
gelegt, das über zwei Holzböcke gebreitet war. Damit die Holzbahre mit dem toten Großvater darauf
Platzhatte,schobenwirnochschnelldengroßenKupferkesselmitdemDeckelinFormderMützeeines
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