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russisch-orthodoxen Bischofs zur Seite. In dem Kessel hatte mein Stiefvater im Herbst aus Zwetschgen,
Marillen und verschiedenem Fallobst seinen sechzigprozentigen Schnaps gebrannt, den er jeden Tag in
der Frühe trank, zur Hälfte mit Kaffee vermischt.
Am nächsten Tag kam der Tischler mit dem Sarg. Der Sarg war mit Silberpapier beklebt, dazu prangte
in der Mitte des Deckels ein Kreuz aus Goldpapier. Dem Großvater wurde ein weißes Hemd angezogen.
Meine Mutter hatte es vorher noch gewaschen sowie Brustteil und Kragen gebügelt. Auch hatte sie den
Staub von seinem Hochzeitsanzug gebürstet, den sie ihm ebenfalls überstreifte. Die Hose war um den
Bauchzueng,daherdrapiertesiedasSakkosodarüber,dassmannichtsehenkonnte,dasssichdieHose
nicht mehr zuknöpfen ließ. Zwei schwarz gekleidete Männer nahmen den inzwischen ganz steif gewor-
denenKörper,legtenihnindenSargundhobendenSargmitdemGroßvaterzurückaufdasEichenbrett.
AnKopf-undFußendestelltensievierKerzenauf,undamnächstenTagkamensiewieder,machtenden
SargzuundtrugendenGroßvaternachGettsdorfzumFriedhof.AlleBauersfrauenundvielederBauern
aus dem Dorf kamen ins Haus, um Beileid zu wünschen, und gingen dem Sarg hinterher. Meine Mutter
weinte immerfort.
DieGroßmutterwarschonlangeansBettgefesseltundkonntenichtmitdemLeichenzugmitgehen.Ob-
wohl sie seit über einem Jahr ihr Zimmer nicht mehr verlassen hatte, war sie immer noch ein wenig eitel
und trug im Bett die grauen langen Haare über die Schultern liegend und hatte das weiße Nachthemd
mit dem kleinen runden Kragen an, der mit geklöppelten Spitzen und an der Knopfleiste mit hellgrau-
en Lochstickereien kunstvoll verziert war. Während der Großvater in der Totenkammer lag, schrie sie
immer und immer wieder „Franzl, Franzl“, aber er hörte sie nicht. Als der Sarg aus dem Haus getragen
wurde, umklammerte sie mit ihren ausgezehrten Händen so fest ein kleines schwarzes Holzkreuz, dass
sich die Zehenspitzen des daraufgenagelten metallenen Christus in ihre Handballen bohrten, dazu jam-
merte und betete sie gleichzeitig und rief zwischendurch immer wieder: „Franzl, armer Franzl, bleib bei
mir, bleib bei mir.“
Nach meinen kurzen Abstechern zu unserem verwilderten Grab auf dem Friedhof nahm ich meine Beo-
bachtungsposition auf dem freigestampften runden Platz vor der Friedhofsmauer wieder ein. Die Bau-
ern mit ihren voll beladenen Fuhrwerken fuhren bis in den späten Abend aus beiden Richtungen an der
Friedhofsmauer vorbei. Einige Dutzend Meter weiter lag die schwer einsehbare Straßenkreuzung. Das
letzteStückdervomdreiKilometerentferntenZiersdorfherkommendenStraßewareinesteilabfallende
Strecke,wasbesondersdieMotorradfahrerreizte,mithoherGeschwindigkeitindenOrtzubrausen.Die
von rechts und links aus den Nachbardörfern kommenden Autos, Traktoren, Pferdewagen, Motorräder
und Fahrräder sahen die Rasenden, wenn sie sich der Kreuzung näherten, meist zu spät, und es gab re-
gelmäßigkrachendeUnfälle,dieoftmitSchwerverletzten odergarTotenendeten.Auchderverheiratete
Liebhaber der Mirkan-Ursula war auf dem vom alten Mirkan geliehenen Puch-Moped MS 50 dort ums
Leben gekommen. Mehrmals habe ich selbst Unfälle direkt miterlebt, wenn ich im Schatten der Fried-
hofsmauer saß und die Nummern der vorbeifahrenden Autos aufschrieb.
Bei jedem dieser im Schnitt nahezu wöchentlichen Unfälle kam der Gendarm aus Ziersdorf, um den
Unfallhergang aufzuschreiben. Der recht kräftige und stämmige Polizist, der aus Litschau stammte, ei-
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