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Seine Witwe, ganz in Schwarz gekleidet, steht an der linken Seite des Sarges, der sechsjährige Sohn
hinter seiner Mutter, das flachsblonde Haar akkurat gescheitelt. Er versteht nicht so recht, was um ihn
herum vorgeht und warum das alles so ist. Die Dorfbevölkerung, vor allem die Frauen, kommt in das
nach Weihrauch und abgebranntem Kerzendocht riechende Sterbezimmer gepilgert. Man nimmt aus ei-
ner rechts neben dem Sarg stehenden, mit Weihwasser gefüllten gesteinelten Glasschale die darin lie-
genden gebündelten Kornähren und spritzt damit dem in seinem silbrigen Sarg liegenden Toten, dessen
gefaltete Hände mit einem Rosenkranz umschlungen sind, ins Gesicht und auf die Hände. Die Segnung.
Nach dieser sakralen Handlung verharren die Frauen noch eine kleine Weile am Sarg und gehen dann
hin zur links vom Sarg stehenden Witwe, um ihr die Hand zu schütteln und ihr Beileid auszudrücken,
wobei die Witwe immer wieder aufs Neue zu weinen und zu schluchzen beginnt. Woraufhin die - meist
weiblichen - Besucher erneut etwas in sich hineinmurmeln und das Totenzimmer verlassen.
Die Männer, die Bauern, bleiben dagegen mehrheitlich vor der Totenzimmertür gleich am Hauseingang
im Gang stehen. Gehen nicht hinein. Nehmen ihre verbeulten Hüte und ihre speckigen Kappen ab, um
sich mit beiden Händen an deren Rändern festzuhalten und die Krempen dabei von links nach rechts
undwiederzurückzudrehen.UmdieknisterndeunddrückendeStillezudurchbrechen,diesichvorund
hinterderTotenzimmertürbreitmacht,sagteinerderAlten,dernurnochzweivonTabakbraunverfärbte
Zähne im Mund hat, zu einem der danebenstehenden etwas jüngeren Bauern: „Wo is'n nocha da Lei-
chenschmaus?“Daraufderandere,leiseundganzehrfurchtsvoll:„Jo,ichglaubdoimHaus.“Nacheiner
kurzenDenkpausefügternochhinzu:„Hoffentlichgibt'sanguatenWein“,undeinleichtesSchmunzeln
legt sich um seine Lippen.
Danach geht es in die Kirche nach Gettsdorf zur letzten Einsegnung, und anschließend folgt der unaus-
weichliche Gang zum Friedhof. Es regnet und der scharfe Wind pfeift so stark um die Ecken, dass man
denMännerchor,der„NunistderHerrzurRuhgebracht“singt,kaumhörenkann.WährendTotengräber
Radlinger, der am Vortag unter den Blicken der betend ihre Rosenkränze in den Händen haltenden Al-
ten mit dem Sarg des Bürgermeisters im Leiterwagen seine Runde durch beide Dorfstraßen gedreht hat,
noch seine letzten Schillinge zählt, die er von den Trauergästen für die gereichte Schaufel Erde bekom-
men hat, dabei jedes Mal „Vergelt'sGott“ oder„Gelobt sei Jesus Christus“ murmelnd, umdaraufhin mit
lautem Gepolter damit anzufangen, die kalte Erde auf den Sarg zu schaufeln, sind ich und die anderen
Kinder schon dabei, die gewachsten Papierrosen von den Kränzen zu reißen, um sie auf dem nächsten
Kirtag für zehn Groschen das Stück wieder verkaufen zu können.
Im Schatten der Friedhofsmauer
DieSchattenseinerMauerunddieStilledesGettsdorferFriedhofesliebteichandenSommertagenganz
besonders. Die etwa zwei Meter hohe straßenseitige Mauer, von der die Feuchtigkeit den Putz hatte ab-
bröckeln lassen und die oben einen kleinen First aus Dachziegeln trug, war umrandet von allerlei wu-
chernden Gräsern, langstieligen Feldblumen wie wilden Margeriten und blauen Glockenblumen sowie
ganzenBüschenvonBrennnesseln.InmittendesGewuchershatteichmireinenkleinenrundenPlatzvon
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