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Er werde sich im Keller erhängen, sagte er
Wenn der Mann meiner Mutter, mein Stiefvater, am späten Nachmittag seinen täglichen kleinen Rausch
hatte, dann war er zunächst übertrieben lieb und freundlich. In Abständen von einer halben bis Drei-
viertelstunde ging er gemächlichen Schrittes vom Haus oder der danebenstehenden Scheune in den am
Beginn der Kellergasse gegenüberliegenden, etwa fünfzig Meter entfernten Keller. Dabei pfiff er ein
Lied, in höchst unangenehmer Tonlage, zog sein im Krieg verletztes Bein nach, runzelte die leicht nach
innen gewölbte Stirn und murmelte zwischendurch immer wieder unverständliche Wörter vor sich hin.
Wenn,KellergangumKellergang,derkleineRauschgrößerwurde,wurdedasPfeifenzunehmenddurch
Schimpfen und Fluchen ersetzt, nur die unverständlich gemurmelten Wörter blieben.
Bevor er die Kellertür mit dem großen Eisenschlüssel aufschloss, schaute er nach links und rechts, ob
ihn auch keiner beobachtete, dann öffnete er, ging die sieben Lehmstufen hinunter, nahm den alten, vom
herabgetropften Wachs überzogenen Kerzenleuchter, schaute erst in den kleinen Kartoffelkeller, schüt-
telte den Kopf und schimpfte über die wuchernden Triebe der Erdäpfel und ging dann nach rechts bis
zumEndedesGangesindenWeinkeller,stecktedenlangstieligengläsernenWeinheber,derandereinen
Seite des ovalen Auffangbehälters ein stilisiertes Weintraubenrelief zeigte, in das Eichenfass und sog
drei Gläser aus dem Fass. Das erste trank er in einem Zug, die anderen in kurzen Abständen hinterher,
indem er den Wein schlürfend und glucksend zwischen Zähnen und Zunge einsog, um den Geschmack
möglichstlangeundintensivimMundzuhaben.Dazwischenredeteermitsichselbst,schimpfte -wenn
er schon zu pfeifen aufgehört hatte - über meine Mutter, über meine Schwester und mich sowie auf die
übrigen Dorfbewohner.
Nach dem dritten Kellergang wurde der tägliche Rausch stärker, dann kippte die Stimmung endgültig,
und er wurde bös und unangenehm. Jedes an meine Mutter gerichtete Wort endete nun in einer Belei-
digung. Gerne nannte er sie dann etwa eine „Blunzen“, ein grobes Schimpfwort, das eigentlich „Blut-
wurst“bedeutet.SiehattenichtdieKraft,sichdagegenzuwehren.Sieunterlagimmerundimmer.Wenn
der Abend fortschritt, eskalierte die Stimmung, und es endete damit, dass er erneut in den Weinkeller
ging, um weiterzutrinken, und meiner Mutter damit drohte, er werde sich im Keller erhängen.
Das Ritual war immer das gleiche. Allein schon der Gang von Haus oder Scheune zum Keller und vom
Keller wieder zurück zum Haus oder zur Scheune bedeutete für ihn eine notwendige Erfüllung. Jahraus,
jahrein lief die gesamte Zeremonie des Kellergangs immer in einem recht ähnlichen Rhythmus ab. Erst
wurde er freundlich, dann begann er zu schimpfen und zu fluchen, dann gab es Streit mit der Mutter,
weil zu wenig Geld im Haus war oder wegen ihres „Fehltritts“ - der Fehltritt, oder vielmehr dessen Er-
gebnis, war ich, das uneheliche Kind -, dann gipfelte der Streit in der Ankündigung, er werde sich im
Keller erhängen, und es folgte wiederum der hinkende Gang, mit gerunzelter Stirn, in den Keller.
Oft kam es vor, dass sie tagelang nicht miteinander redeten. In dieser Situation litt ich große Qualen.
Wollte meiner Mutter helfen, wusste aber nicht, wie. Wenn er mit dem Erhängen drohte und sie sich
sonst nicht zu helfen wusste, ging sie zum Greißler, dem Kaufmann Knötler, kaufte in seinem gleich
gegenüber von unserem Haus gelegenen kleinen Laden ein Stück Wurst, etwas Käse oder Russen - das
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