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Bevor man nach links in den Raingraben einbog, gab es einen kleinen Wald mit Birken, Robinien, die
wirAkaziennannten,undanderenLaubbäumen.AmWaldbodenblühtenwunderschönekurzstieligeLe-
berblümchen. Sie hatten sechs- bis siebenblättrige, blassblaue Blüten mit kleeblattähnlichen, sattgrünen
Blättern. In vielen Jahren habe ich an dieser Stelle ein kleines Sträußel gepflückt und es meiner Mutter
zu ihrem Ehrentag, dem Muttertag, geschenkt. Sie lachte und meinte, wie schön diese Blümlein doch
seien. Mehr Lieblichkeiten gab es nicht.
Für mich und die Bieringer-Emma, gewissermaßen meine erste Liebe, sollte dieses Wäldchen zu einem
geheimen Treffpunkt werden, an dem wir viele, vielleicht sogar glückliche Stunden verbrachten. Wenn
wirganzdrinimkleinenWaldwaren,konntemanunsvomGehwegausnichtsehen.DiedichtenBäume
und Büsche versperrten jede Sicht. Lange lagen wir dort im kühlen Moos und beobachteten die emsigen
Ameisen, die unbeirrbaren Käfer und die trägen Schnecken, die sich vom Weinberg über den Gehweg
in den Wald verirrt hatten. Schauten den possierlichen Eichhörnchen bei ihrem spielerischen Treiben zu
undentzücktenunsanallerleiWaldvögeln,dieüberdieZweigeflattertenoderderenGesangwirlausch-
ten.DieseStundenließenmichdenbösenStiefvaterundmeinungeliebtesZuhauseoftmalsganzverges-
sen.
EinStückdenRaingraben weiter führteeinWegnachobenzudemanderenWeingarten am„Berg“.Von
dort hatte man rundum einen freien Blick. Hoch hinaus ragten der Getreidesilo der Gettsdorfer Guggen-
bergermühle sowie der Zwiebelturm der barocken Valentinskirche, in der ich oftmals während der heili-
gen Messe ministrierte. Am Horizont thronte die gotische Kirche von Wartberg, die dem heiligen Sankt
Leonhard, Schutzpatron der Kühe und Pferde, geweiht ist. Von unserem langgestreckten Hundertseelen-
dorf dagegen war nur ein kleiner Teil zu sehen, der übrige Ort wurde durch den großen Bogen eines
Hügelsverdeckt.WenndieAbendsonnegoldenschien,erinnertenStimmungundAnblickanJosephvon
Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“: „Als hätt' der Himmel die Erde still geküsst.“
Während der Weinlese war auch die Hütte des Hüters, der durch die traubenvollen Gärten strich, um
dieDiebevonihrenschändlichenTatenabzuhalten,verschlossen.DieverschlosseneHüttebedeutetefür
den Huberka-Franz, meinen Freund, und mich einen besonderen Anreiz hineinzuschauen. In Hütten wie
dieser wurde so manches ungewollte Kind gezeugt, und auch die Mirkan-Ursl hatte sich ja dort mit ih-
rem verheirateten Liebhaber Leopold getroffen, bevor sie von ihm schwanger geworden war. Durch die
RitzenundAstlöcherimHolzkonntemandenmitroten,weißenundblauenBänderngeschmücktenHut
desHüterssehen.EinedurchgebogeneHolzpritschedientedemHüterzurkurzzeitigenErholungundfür
seine Schlafpausen, die er am Tag einlegte. Denn des Nachts war er damit beschäftigt, Wache zu halten.
Einlanger,knorrigerBirkenstock,mitebensolchenbuntenBändernversehenwiederHut,dienteihmals
einzige Waffe gegen die Traubendiebe.
Die wirkungsvollste Waffe gegen die Diebe freilich war der Aushang an der Tür des Gemeindeamtes,
der ihren vollständigen Namen nannte, wenn sie beim Traubenstehlen erwischt worden waren. Dieses
An-den-Pranger-gestellt-Werden bedeutete für die Dorfbewohner einen empfindlichen Ehrverlust und
war daher sehr abschreckend.
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