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An diesem wunderschönen Arbeitsplatz habe ich viele angenehme Jahre meines Lebens verbracht. Sie
zeichneten mir die Richtung vor, in die mein weiterer Lebensweg führen sollte, der mir in der Folge
erlebnisreiche Jahrzehnte als Kellner und Oberkellner im Hamburger Luxushotel Vier Jahreszeiten be-
scherte. Das Glück und die Freude, meine Tage in schöner Umgebung und mit meist angenehmen Men-
schen zu verbringen, war mir, wenn ich so den weiteren Verlauf meines Lebens überblicke, zumeist be-
schieden, und ich würde, stellte sich die Frage, alles wieder so machen, vielleicht mit ein paar „Verzie-
rungen“ da und dort mehr.
Das Leben
… und man ist dazu da, dass man's ertragt und in dem ›Wie‹ - da liegt der ganze Unterschied
Hugo von Hofmannsthal
Alle Begebenheiten aus meiner frühen Kindheit habe ich hinter mir gelassen, habe wie eine Raupe nach
der Verpuppung den Kokon abgeworfen, ihn in eine tiefe Grube gelegt und einen großen Stein darauf
gewälzt, um mich nie wieder daran erinnern zu müssen. Doch als ich meine Wunden lecken wollte, wa-
ren keine mehr da. Vielleicht ein paar Narben, das schon. Aber selbst die Narben wurden mit den Jahren
immer unsichtbarer. Lange Zeit war mein bestimmender Gedanke gewesen: Ich kann der Sache nicht
entkommen,esgibtkeinenAusweg.VieleJahrespätersollteesdochanderswerden.Undnunhabendie-
se vielen verschiedenen, schrecklichen und schönen Kindheitserfahrungen Form angenommen, sie sind
für mich zu kleinen Miniaturen geworden, die ich, nachdem ich den großen Stein wieder weggeschoben
und sie aus der Grube herausgeholt und in eine Vitrine gestellt habe, manchmal aus der Ferne, manch-
mal auch aus der Nähe, mit kritischen oder auch liebevollen Augen betrachte, mit Herzweh, Schmerz,
Sehnsucht und oftmals auch amüsiertem Vergnügen.
Die Erfahrungen meiner Kindheit haben mir im späteren Leben vieles verständlicher und leichter ge-
macht. Zwar konnte ich es oft nicht verstehen, wenn Menschen, die doch mit allem Guten beschenkt,
mit Schönheit und Reichtum gesegnet waren, mit ihrem Schicksal haderten, gar höchst unzufrieden wa-
ren, andererseits konnte ich umgekehrt auch wieder ihre scheinbar unverständlichen Probleme und ihre
aufkommenden Sorgen sehr gut nachvollziehen.
Zu Vroni Millinger, verheiratete Mödler, mit der ich einst in Ziersdorf auf dem Volksfest Eis gegessen
habeundfürderenBenimmunterricht vondamalsichheutenochdankbarbin,habeichnochimmereine
enge und vertraute Verbindung. Sie ist inzwischen über achtzig und wird, so hoffe ich, genauso alt wie
ihre Mutter, die ein wahrhaft biblisches Alter erreichte, ehe sie nach den flehenden Bittworten „Liaba
Himmevotter, ned owischtessn ind Höll“ verschied. Vroni ist mein erfrischender und oftmals erheitern-
derQuellanGeschichtenundErzählungenvonfrüher,dermichnichtvergessenlässtunddieErinnerung
an Gutes wie Schlechtes lebendig hält, aber alles seit langem letztlich ohne Schmerz und Weh.
VielederGestalten,dieinmeinerKindheiteinensolebhaftenEindruckaufmichgemachthaben,sindin-
zwischen längst aus dem kleinen, langgestreckten Hundertseelendorf verschwunden. Die von den meis-
ten Dorfbewohnern geschnittene und selbst von den Kindern beschimpfte „Rote Sali“ zum Beispiel, so
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