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TatsächlichbekamichimInternat,indiesergroßenGemeinschaftvonetwahundertSchülern -Mädchen
undBubenimAlterzwischen fünfzehnundzweiundzwanzig Jahren -,einiges zuspüren,wasmichsehr
an zu Hause erinnerte. Unbewusst signalisierte ich wohl auch eine gewisse Ängstlichkeit und Schwach-
heit, die anderen nicht entging. Die vom Stiefvater geschlagenen Wunden der Seele waren immer noch
da, ich konnte sie nicht verdecken. Ich war nach wie vor, immer und überall, in Abwehrstellung. Die
selbstsicheren, mir daher überlegenen, meist älteren Mitschüler erkannten dies sofort und nützten die
Gelegenheit, ihre Stärke an mir auszuleben und eigene Aggressionen abzubauen, indem sie sie bei mir
abluden.
Schon allein dass ich nur einen einzigen braunen, doppelreihigen Anzug mit großem Revers hatte, der
auch noch alt und unmodisch war, bildete reichlich Angriffsfläche für Häme und Spott. Und mein ein-
ziges Paar Halbschuhe war an den Absätzen so abgetreten, dass ich mich umdrehte, wenn ich mich von
hinten beobachtet glaubte, und rückwärts ging, in der Hoffnung, man sähe mein armseliges Schuhwerk
nicht. Die Lehrstelle war zwar so, wie ich es nicht besser hätte treffen können, doch Lehrgeld gab es
monatlich nur etwa siebzig Schilling, und die verbrauchte ich schon für die Anreise in das Internat nach
Waldegg.
Selbst einer unserer Lehrer nützte die Chance, sich auf Kosten des Schwächeren, in diesem Fall also
von mir, lustig zu machen, indem er Bemerkungen machte, die den Mitschülern gellende Lachsalven
entlockten. Der Einzige, der nicht lachte, war ich, ich senkte mein Gesicht zum schwarz gebeizten Fuß-
boden und schämte mich für etwas, wofür sich doch eigentlich der Lehrer hätte schämen sollen. Sogar
der Direktor des Internats, Herr Engmann, sagte, während er mich von oben bis unten musterte, seine
dunkelblaue Pullmannkappe nochschräger insGesicht rückte, genüsslich anseiner Pfeife zogunddabei
akribisch seine dicke Hornbrille mit einem grau gestreiften Taschentuch putzte, ich solle doch vielleicht
einmal beim Caritas-Hilfswerk anfragen, ob sie ein Paar gute, nicht abgetretene Schuhe für mich hätten.
Dafür schämte ich mich bis zum Ende des Internatsaufenthalts.
Meine Schlafstube war noch mit vier anderen Buben belegt, die etwas älter waren als ich. Abends tran-
ken sie verbotenerweise Bier und andere alkoholische Getränke, was ihre Laune hob, sie übermütig
machte und zu vielen Späßen animierte, wie zum Beispiel sich mit bunten Farbstiften irgendwelche ob-
szönen Bilder, etwa von Brüsten oder Vaginen, auf die Bäuche zu malen oder meine blonden Haare
damit anzufärben oder sie gar strähnenweise abzuschneiden. Dann stellten sie sich in einer Reihe auf,
holten ihre Schwänze heraus, begannen zu onanieren und mit einem Lineal abzumessen, wer wohl den
längstenPenishätte.Dasbehagtemirnicht,warmirhöchstzuwider,ekeltemichan,schonweilichdoch
bereits damals mit Max, vor etwa fünf Jahren im Gettsdorfer Glockenturm, nachdem wie ein dunkler
Schatten das Gesicht der alten Seilerin im kleinen Fenster erschienen war, geschworen hatte, so etwas
nie wieder zu tun. Also wandte ich mich ab und distanzierte mich von den anderen, mit der Folge, dass
sie mich eine Memme und einen Feigling nannten.
Wenn es besonders bedrängend und bedrückend für mich war, dachte ich immer an meine gute Mutter.
Jetzt, da ich sie nur noch so selten sah, fehlte sie mir sehr. Ich hatte große Sehnsucht nach ihr. Dieses
Herbeisehnen ging sogar so weit, dass ich unter dem Vorwand, alle Schüler sollten einen Stammbaum
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