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Häuser neben dem imposanten, dreitürmigen palastähnlichen Haus der reichen Fuggerfamilie wohnte,
die längst ausgestorben ist.
Mir knurrte der Magen, ich hatte Hunger. Seit dem Frühstück im Hotel zur alten Post hatten wir nichts
gegessen. Die Rückfahrkarte hatten wir in der Tasche und ein paar Schillinge auch noch. Zweihundert
Meter vom Donauufer entfernt verkaufte ein Mann aus einem viereckigen, weiß gestrichenen Holzwa-
gen, den er an zwei Haltegriffen vor sich herschob und auf dem in großen roten Buchstaben „Heiße
Würstel“ stand, Wiener Würstel mit Senf und Semmel. Unter dem rot-grünen Leinendach, das, von vier
dünnen Eisenstangen gestützt, dem Handwagen als Sonnenschutz diente, lagen die Würstchen in einem
Kessel mit Wasser, das der Würstelverkäufer von unten mit einem kleinen Feuer erhitzte, in das er ab
undzueinStückKohlelegte.UnserGeldreichtegenaufürzweiWürstchen;fürdieebenfallsfeilgebote-
nen Limonaden hatten wir kein Geld mehr übrig. Vor dem Gastgarten in dem nebenliegenden Wirtshaus
mit dengroßenschattigen Lindenbäumen stand ein Brunnen, ausdem wirfrisches, klares, kaltes Wasser
schöpften.
Ich wollte Leni etwas näher spüren, ihr näherkommen, wusste nicht wie. Über ihr Gesicht huschte
manchmal ein Lächeln, das ich nicht deuten konnte. Wusste nicht genau, was sie wollte, und vor allem
nicht, was ich wollte. In mir war eine Unsicherheit, die mir nicht erlaubte, selbst etwas zu tun, selbst
die Initiative zu ergreifen. Vielleicht wollte ich nur das vertraute Gefühl empfinden, das ich aus meinem
Dorf her kannte und das mir Geborgenheit verlieh. Wir gingen ein Stück am Wasser entlang und ich
nahm all meinen Mut zusammen und griff nach Lenis Hand. Sie schaute mich fragend an, lächelte und
ließ es dabei. Sie war zweiundzwanzig und ich sechzehn.
Auf der Rückfahrt saßen wir wieder auf der hintersten Bank im Bus und ich versuchte sie zu küssen,
sie hatte nichts dagegen und erwiderte den Kuss. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein
Mädchenrichtiggeküssthabe.Aberhatteichsiedennwirklich richtig geküsst?Waresdennrichtig,was
ich gemacht habe, so mein erster Gedanke, gehörte es sich so?
AlsichihrenBusenspürte,dachteichwiederanEmmaskleineHügel,wennichsieaufdemDachboden
in unserem Pappkartonhaus zur Braut frisierte und ihr dabei sanft über den Hals strich. Diese Augenbli-
cke hatte ich vermutlich als sehr glückliche Augenblicke empfunden.
Die Zeit in Krems verging schnell. Während der dreijährigen Lehre hatte ich jedes Jahr einen sechswö-
chigen Schulblock in der Landesberufsschule in Waldegg im Piestingtal zu absolvieren. Diese Wochen
bedeuteten einen erneuten Abschied; ich musste meinen wunderbaren Lehrplatz verlassen, an dem ich
es so gut hatte und an dem ich so viel Zuneigung von Brunners und den anderen Mitarbeitern erfuhr.
Waldegg war wieder Neuland, das es zu entdecken galt und das mich unsicher machte. Was wird mich
erwarten, was wird von mir erwartet? Das Leben im Internat war mir völlig fremd. Alles Dinge, denen
ich mit Skepsis begegnete. Im Innersten war ich immer und überall von einer latenten Angst begleitet,
ich nenne es meine „Zu-Hause-Angst“: Auch wenn die Angst sich auf das Fremde, Unbekannte, Neue
richtete, war sie doch im Grunde getrieben vom Bekannten, allzu Vertrauten, zu Hause Erlittenen.
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