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Dergleichen hatte ich zu Hause, wenn überhaupt, nur von meiner Mutter erfahren, aber auch in ihrem
Fall immer nur gleichsam unter einem Seidentuch versteckt, nie direkt aus offenem Herzen.
Das Hotel zur alten Post erfüllte viel mehr als das Goldene Lamm die Vorstellungen, die ich mit dem
Kellnerberuf verband und bei meiner Berufswahl bildlich vor Augen gehabt hatte. Es gab eine richti-
ge Rezeption, nicht wie im Goldenen Lamm, wo die schwerhörige alte Mutter von Herrn Strudler dem
ankommenden Gast den Schlüssel - an dem ein kleines hölzernes Bierfass hing, auf dessen Unterseite,
oftmals unleserlich, die Zimmernummer eingebrannt war - einfach auf die Bierschank gelegt hatte.
Die Hälfte der Zimmer im Hotel zur alten Post hatte einen wunderschönen Blick in den efeubewachse-
nen historischen Renaissancehof. Zwischen den Säulen im Hof hingen viele barocke Figuren von Hei-
ligen und Schutzpatronen, die Herr Brunner mit Sorgfalt, gutem Geschmack und Fachwissen sammelte.
Wenn ich um sechs Uhr früh meinen Dienst antrat, stand als erste Arbeit das Reinigen und Säubern der
Toiletten und Pissoire auf meinem Arbeitsplan. Der beißende Gestank des Urins, den die von Bier und
Wein betrunkenen Männer in der Nacht zuvor beim Danebenpinkeln im Raum hinterlassen hatten, war
mir um diese Uhrzeit beinahe unerträglich, aber gegenüber dem, was ich in meinem unglücklichen Zu-
hause hatte erdulden müssen, empfand ich meine jetzige Tätigkeit dennoch regelrecht als Gottesgabe.
Anschließend mussten die jeweiligen Restaurants, Stuben und Stüberl gekehrt, abgestaubt und in Ord-
nung gebracht werden. Um sieben zog ich mein weißes Hemd und meine schwarze Hose an, die mir
meine Mutter vor meiner Abreise noch gebügelt, schön zusammengefaltet und mit tränenfeuchten Au-
gen in die Reisetasche gelegt hatte, und servierte Frühstück. Später folgten dann Mittag- und Abendes-
sen.
Wenn die Gerbers in das Hotel kamen, um ihren in der Stadt studierenden Sohn zu besuchen, versetzte
das Frau Brunner und alle Beschäftigten in höchste Wachsamkeit und angespannte Betriebsamkeit. Die
Gerbers besaßen eines der größten Baugeschäfte des Landes Tirol, kamen in einer teuren, steingrau la-
ckierten Mercedeslimousine mit roten Ledersitzen vorgefahren und waren Gäste ganz besonderer Art.
Zimmer fünfunddreißig, das größte und schönste Zimmer, das zusätzlich einen kleinen Vorraum und ein
weißgekacheltes Badezimmer hatte, warfestfürsiereserviert. Dieses Zimmer wareines vonzwei Zim-
mern mit einem eigenen Bad und einer eigenen Toilette. In den übrigen dreiunddreißig Zimmern stand
nur jeweils ein Waschtisch mit Lavoir und einem Wasserkrug, der von den Stubenmädchen mit kaltem
Wasser gefüllt wurde. Die Gemeinschaftstoilette für die Hotelgäste befand sich in einer Hausecke, von
derausmandurcheinweißlackiertesSprossenfenstereinenwunderschönenBlickaufdenRenaissance-
hofhatte.FrauGerberwar,wasmaneine„DamevonWelt“nennt:groß,dasglatteschwarzeHaarstreng
gekämmt, brauner Teint und rot geschminkter Mund, dazu in den elegantesten Kostümen sehr modisch
gekleidet.AuchHerrGerberwareinestattlicheErscheinung.Alldashatteden„HauchdergroßenWelt“.
AlsdanneinmalsogarderberühmteSchauspielerHansMosermitseinerGattinBlancaimRenaissance-
hofsaßundeineJauseaß,michdanachrief,„Kommher,Burscherl!“,undmirmitgönnerhafterGebärde
zwanzig Groschen in die Hand drückte, dachte ich im Stillen: „Jetzt bin ich auf dem richtigen Weg.“
Endlich war ich heraus aus dem kleinen Dorf, und ich wollte nie mehr dorthin zurück.
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