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Wie ich es mir vorgenommen hatte, fuhr ich nach einer Woche, an meinem ersten freien Tag, mit dem
Postbus nach Maria Dreieichen zur Wallfahrtskirche, um mein Gelübde zu erfüllen, Gott zu danken und
für meine Mutter zu beten. Schon aus der Ferne sah ich während der Fahrt die zwei barocken Zwiebel-
türme der Kirche aufragen.
Beim Betreten der Kirche fühlte ich mich frei und unbeklommen. Erst setzte ich mich in eine der hinte-
ren Bänke, um zu beten, dann ging ich vor zum Hochaltar und war tief beeindruckt von der strahlenum-
kränzten Pietà, die ihn krönt - diese Darstellung der Gottesmutter mit dem auf ihrem Schoß liegenden
toten Jesus zeigt Mutter wie Sohn mit prunkvollen Kronen auf dem Haupt. An der Wand hinter diesem
Altarbild wuchs ein mächtiger, in vollem Blatt stehender Eichbaum empor, aus Glas und anderen Werk-
stoffen nachgebildet.
Nachdem ich mich bei unserem Herrn für die gute Fügung bedankt hatte, der ich meine Lehrstelle und
mein Entkommen aus dem Hundertseelendorf meiner Kindheit verdankte, ging ich noch in die Devotio-
nalienkapelle,dieüberundübervollwarmitFotografien,Marienbildernundvielennaiven,oftvonalter,
zittrigerHandselbstgezeichnetenodergemaltenBildern,unterdeneneinpersönlicherDankstand -wie
etwa: „Liebe Muttergottes, ich danke Dir, dass Du meine kranke Mutter wieder gesund gemacht hast“,
oder: „Liebe Frau im Himmel, meinen innigsten Dank, dass Du meinen Sohn gesund aus dem Krieg
wiederzurückgebrachthast.“DazudiemitbuntenFarbstiftenangefertigteZeichnungeinergroßenblau-
en Wolke, auf der eine Muttergottes mit Heiligenschein thronte, die auf dem Haupt eine goldene Krone
trug. Auf einem größeren Bild war ein Traktor mit Anhänger zu sehen; der Anhänger war mit Rundhöl-
zern beladen, und zwischen den hinteren Traktorrädern und dem vorderen Anhängerrad lag ein kleiner
BubmitblutendemOberkörper,vorneaufdemTraktorsaßseinVatermitangst-undschmerzverzerrtem
Gesicht, und unter dem Bild stand: „Aus Dankbarkeit der allerheiligsten Muttergottes für die vollstän-
dige Genesung nach dem schaudererregenden Unfall, welcher sich am 21. Dezember 1952 in Mold bei
Horn ereignete.“
AnschließendbinichnochzumunweitgelegenenMarienbründlgegangenundhabedortzurErquickung
frisches, klares Quellwasser getrunken, ehe ich die Rückreise nach Horn antrat.
Bald wurde mir die Rückkehr ins Hotel Goldenes Lamm und die dortige Arbeit jedoch immer unliebsa-
mer. Der Chef, Herr Strudler, mochte mich nicht so gern und ich ihn auch nicht. Dieser kleine, dickli-
che Mann mit dem gekrausten rotblonden Haar hatte, wie ich empfand, einen unehrlichen Blick und ein
abschätziges Lächeln. Ihm zu begegnen erfüllte mich mit ängstlicher Beklommenheit, einer ähnlichen
Beklommenheit, wieichsiebeidenBegegnungenmitmeinemStiefvaterfühlte.WennichseineSchritte
hörte, vertiefte ich mich stur vor mich hin blickend in die eben anfallende Arbeit. In gebückter Haltung
sortierte ich dann leere Flaschen in die dafür vorgesehenen Kisten oder wischte den Boden, den ich kurz
vorher schon einmal geschrubbt hatte, erneut, um ihm nur ja nicht in die Augen sehen zu müssen.
Täglich um zwölf Uhr mittags kam der Gefängnisaufseher Herr Preiser, im Gesicht das gleiche hämi-
sche,verächtlicheLachenwieHerrStrudler,miteinemArrestantendurchdieHintertürindieKüche,um
dasspeziellfürdasnahegelegeneGefängnismitseinenetwazehnbisfünfzehnInsassengekochteMitta-
gessen abzuholen. Dieses breiartige Essen, das man wohl besser einen Fraß nennen sollte, wurde heiß in
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