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gewesen. Meine Mutter sah in ihrem grauen Kleid mit den großen Blumen drauf, und dazu das blaue,
seideneTuchumdenHals,dassienurzuganzbesonderen,feierlichenGelegenheitentrug,wunderschön
aus.
Nach der Ankunft in Wien waren wir über den Julius-Tandler-Platz in ein Wirtshaus mit einem Schild
gegangen, auf dem in großen braunen Buchstaben „Gastwirtschaft Pitzinger“ stand. Das rechteckige
Gastzimmer mit der dunklen, bis zur halben Höhe der Wand reichenden Holzvertäfelung und dem
schwarz geölten Bretterboden war fast voll besetzt mit Gabelfrühstücksgästen. Doch wir konnten noch
einen der kleinen dunklen Eichentische bekommen, auf dem eine Menage mit Salz, Pfeffer, Maggifla-
scheundZahnstochernstand,danebenzweiStapelBierdeckel,aufdenendieWörter„SchwechaterBier“
(aufrotemGrund)oder„GösserBier“(aufgrünemGrund)abgedrucktwaren.MeineMutterbestelltefür
unsjeeinkleinesGulaschmiteinerSemmel.Zutrinkenhabenwirnichtsbestellt,dafürreichtedasGeld
nicht. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich in einem Gasthaus eine Speise gegessen. Einmal hatte ich
etwasgetrunken,ja -dawarenwirzumGeburtstagmeinesStiefvatersimGastraumvomGreißlerKnöt-
ler, gleich gegenüber von unserem Haus, gewesen, und da hatte meine Schwester ein Sinalco getrunken
undicheinHimbeerkracherl,dasichmirallerdingsmitmeinerMuttergeteilthabe.MeinStiefvaterhatte
zwei große Krügel Bier getrunken.
Nun in der Gastwirtschaft Pitzinger zu sitzen war für mich eine ganz neue und aufregende Erfahrung.
Alles kam mir so vornehm vor. Als ich den über uns hängenden Messinglüster sah, mit sechs Glühbir-
nen, auf die unten und oben mit dunkelroten Samtbändern eingefasste zylinderförmige Pergamentschir-
me aufgesetzt waren, überkam mich, im Wissen um unsere permanente Geldnot, ein ängstlicher Gedan-
ke: „Wird meine Mutter das bezahlen können?“
Vor allem aber durfte der Stiefvater nichts von unserem Gasthausbesuch erfahren, er hätte uns als Geld-
verschwender beschimpft. Die Haupteinnahme der Familie waren ja doch die Alimente, die meine Mut-
ter jeden Monat von meinem Vater, den ich nie gesehen habe, für mich bekam. Das Geld kam per Post
undwurdevomBriefträger HerrBergauerüberbracht. HerrBergauerwareinmal OpfereinesRaubüber-
falls geworden, bei dem ihm alle auszubezahlenden Rentengelder gestohlen wurden. Er selbst hatte da-
bei durch einen heftigen Schlag auf den Kopf eine schwere Gehirnerschütterung erlitten, und seitdem
hatte er einige Ticks, so schüttelte er etwa in bestimmten Abständen immer wieder den Kopf und gab
dazu unverständliche Laute wie „Uh“ oder „Ha!“ von sich. Auch wenn die von Herrn Bergauer über-
brachten Alimentezahlungen für uns so wichtig waren, schämte sich meine Mutter doch ein Leben lang
dafür, und deshalb bat sie Herrn Bergauer, das Geld nur dann zu bringen, wenn der Stiefvater nicht im
Haus war,weil er sie sonst wieder wegen ihres „Fehltrittes“ beschimpfen würde. Das Geld aber nahm er
sehr gerne.
Nachdem wir unser kleines Gulasch gegessen hatten, ohne etwas dazu zu trinken, verließen wir schnell
das Gasthaus Pitzinger, gingen gleich rechts in die Porzellangasse und bogen dann links in die Glaser-
gasse ab. Wir durchquerten einen Hinterhof, passierten eine hohe, verglaste Holztür und schritten eine
steinerne Stiege hinauf in den zweiten Stock. Meine Mutter klingelte, hinter der hohen, schwarz lackier-
ten Wohnungstür war leises Gepolter und Schlüsselgeklirre zu hören, dann öffnete uns eine ältere Frau
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