Travel Reference
In-Depth Information
miteinerdickglasigenHornbrilleundgrauen,zueinemKnotengebundenenHaaren.Sietrugeindunkles
Wollkleid und eine blaue Küchenschürze mit rundherum weiß eingesäumten Rüschen. Ein Geruch von
Kuchen, Kaffee und Mottenpulver zog mir in die Nase. Die Frau forderte uns auf, am Küchentisch am
Fenster Platz zu nehmen, auf dem ein gesticktes Tischtuch lag und eine kleine blaue, trichterförmige
Glasvase stand, die mit gelben Strohblumen gefüllt und oben am Rand sowie unten am Boden mit wei-
ßen Punkten verziert war. Die ältere Frau redete leise mit meiner Mutter, woraufhin sich meine Mutter
zu mir wandte und sagte, ich solle bitte einen kurzen Augenblick in das andere Zimmer gehen. Später
bekam ich ein Himbeerkracherl und die beiden Frauen tranken Kaffee und jeder aß ein Stück safrangel-
ben Gugelhupf mit viel Staubzucker drauf. Nach einiger Zeit erhoben wir uns wieder, um zu gehen. An
der Tür strich mir die ältere Frau mit der Hand über Haare und Wangen. Beide Frauen hatten traurige
Augen und meiner Mutter kullerten, wie so oft, Tränen die Wangen herunter.
Meine Mutter hat mir nie erzählt, wer die ältere Frau war, doch habe ich später herausgefunden, dass es
sich um die Ehefrau des „Fehltrittes“ meiner Mutter gehandelt haben muss. Was aus ihm selbst gewor-
den war, habe ich nie erfahren.
Meine Mutter wollte immer Gutes tun und war immer von Schuld belastet. Schuld, die nicht die ihrige
war. Schuld anderer, die sie sich aufbürdete. Daran musste ich an diesem letzten Abend im Hundert-
seelendorf meiner Kindheit denken, bevor ich das Haus meiner Mutter und meines Stiefvaters verlassen
sollte, und vielleicht fühlte ich in diesem Moment selbst ein wenig Schuld - Schuld, weil ich meiner
Mutter die Last ihres Schuldgefühls nicht abnehmen konnte.
Und dann war der nächste Morgen gekommen. Selbst Mirl, die dreibeinig hinkende Katze, schlich mir
bei meinem Fortgang noch über den Weg und schaute mich mit ihren großen runden Augen forschend
an, ehe sie, den Schwanz am Boden schleifend, über die Felder davonhumpelte, während ich den einen
Kilometer langen Weg zum Postbus nach Gettsdorf weiterging. Seit den Fleischschlägelhieben meines
Stiefvaters kam Mirl nie mehr wie früher ins Haus, nicht einmal bei fünfzehn Grad minus im Winter.
Zum Streicheln traute sie sich in den Hof, aber wenn ich in die Küche ging und sie hereinlocken wollte,
suchte sie rasch das Weite. Das Futter stellte ich oder meine Mutter ihr immer in den Hof neben den
Misthaufen, und in der Nacht fing sie Mäuse und fraß sie auch, was sie zuvor nicht getan hatte. Da hatte
sie - etwa wenn wir die auf dem Getreideschober gelagerten Korngarben, zwischen denen sich ganze
Mäusefamilien eingenistet hatten, in den Schlund der Dreschmaschine stopften - die Mäuse nur gefan-
gen, ihnen ins Genick gebissen und sie wieder ausgelassen, die fiepende und zappelnde Maus dann mit
großen, faszinierten Augen beobachtet, und sobald die Maus weghuschen wollte, fing sie sie wieder,
schüttelte sie erneut aufgeregt hin und her, ließ sie wieder aus und lauerte. Das Ganze ging so lange, bis
die Maus irgendwann tot war, dann verlor Mirl das Interesse an dem bewegungslosen Ding und wandte
sich anderen Beschäftigungen zu; doch gefressen hat sie die Mäuse bis zu jener schweinebratenretten-
den Untat meines Stiefvaters nie. Von nun an würde meine Mutter allein daran denken müssen, auch der
verschreckten grauen Mirl, wenn sie den Tieren Futter gab, einen Napf mit Essensresten hinzustellen.
Und sollte sie es doch einmal vergessen, was sie eigentlich nie tat, so gab es im Hof und in der Scheune
Search WWH ::




Custom Search