Travel Reference
In-Depth Information
und mein Vorstellungsschreiben aus der Tasche genommen und beides griffbereit gelegt. Meine Haare
gekämmt und mir noch ein letztes Mal auch jene Worte zurechtgelegt, die ich meinem - hoffentlich! -
künftigen Lehrherrn sagen wollte. Dabei musste ich wieder liebevoll an meine Mutter denken. Immer
wenn wir irgendwo hingekommen waren, sei es zum Arzt oder in ein Geschäft oder dass wir jemanden
besuchten, hatte sie noch schnell den Kamm aus der Tasche gezogen und mir den Linksscheitel gerade
gekämmt. Dann nahm sie noch ihr Taschentuch, befeuchtete es mit Speichel und wischte mir das Ge-
sicht ab. All die Jahre hatte ich das gar nicht gemocht, doch jetzt fehlte es mir umso mehr.
DerWirt,HerrStrudler,warnochnicht da.„Erkommt erstumneun“,sagte mireine Kellnerin, ichsolle
warten. Die Wartezeit hat mir viele Martern beschert. Hoffentlich, so ging es mir beständig durch den
Kopf,haterseineMeinungnichtgeändertundbekräftigtdiemündlicheZusagenunauchschriftlichund
endgültig, hoffentlich lauert nicht irgendwo doch noch ein unerwarteter Zwischenfall, der alles zunich-
temacht. Gott sei Dank, um neun kam Herr Strudler, schon mit allen nötigen Papieren in der Hand, alle
meine Sorgen und Befürchtungen waren grundlos gewesen. Beide unterschrieben wir einfach nur noch
den Lehrvertrag und gleich in der folgenden Woche sollte ich mit der Lehre beginnen.
Weg von unserem oft so beengenden kleinen Dorf, weg von zu Hause, von unserer armseligen Keusche
mit dem Misthaufen vorm Küchenfenster, weg vom Ziegenbock, vom Stiefvater - und leider auch weg
von meiner lieben Mutter. Sie muss bleiben, sie kann nicht weg. Ich habe nie herausgefunden, ob sie
weggegangen wäre, wenn sie es denn hätte tun können. Eine der vielen Fragen, auf die man in diesem
Leben keine richtige Antwort bekommt.
Morgen ist es so weit. Um acht Uhr früh soll ich meine Lehrstelle in Horn antreten. Wieder werde ich
denPostbusvonGettsdorfnachZiersdorfnehmen,dortnacheinerStundeWartezeitindenPostbusnach
Horn umsteigen und bin dann kurz vor acht im Hotel Goldenes Lamm. Meine Mutter hat mir alles zu-
sammengepackt, was ich zum Anziehen brauche: eine schwarze Hose, zwei weiße Hemden, schwarze
SockenundeinPaarschwarze Schuhe.„Wennesschmutzig ist,kommstdunachHause,undichwasche
es dir schnell“, sagte sie, gab mir noch zwei gelbe Äpfel und ein Stück Brot, das sie mit dem großen
Küchenmesser vom Brotlaib schnitt und mit dem Schweineschmalz aus dem kleinen runden, mit einem
KupferbandumspanntenHolzbottichbeschmierte,denihrderFassbinderBrodegger,weilsienichtmehr
Geld hatte, zum halben Preis verkauft hatte. Sie wickelte das Brot in Papier, steckte es in meine Tasche
und hatte dabei ganz traurige, tränenfeuchte Augen.
Ich schwankte zwischen Wehmut und Freude. Dabei musste ich wieder daran denken, wie meine Mutter
einst dem Stiefvater, als er für drei Wochen ins Gefängnis ging, nachdem er seine allein besonderen An-
lässenvorbehalteneBaskenmützeaufgesetztundseinengutenMantelangezogenhatte,eineKnackwurst
und eine Flasche Bier in die Manteltaschen steckte.
Auch an die zweite Eisenbahnreise mit meiner Mutter dachte ich. Etwa ein Jahr nach der winterlichen
Zugfahrt zurTante inGmünd,wowir,aufgehalten durchdenTraktor aufdenSchienen unddenTodvon
Fahrer und Frau erst mit großer Verspätung ankamen, hatten wir den Zug in die andere Richtung, nach
Wien Franz-Josefs-Bahnhof genommen. Warum wir diese große Fahrt machten, war mir nicht recht klar
Search WWH ::




Custom Search