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Winterheimat fortgeflogen. Vor dem Losfliegen waren sie noch mit vielfachen Sturz- und Steigflügen
ums Haus geschwirrt. Im nächsten Sommer würden sie sich dann mit viel lautem Gezwitscher wieder
ankündigen, ihr Haus vom Vorjahr erneut beziehen und wieder bis Mariä Geburt, dem 8. September,
bleiben. Meine Mutter sagte immer: „Zu Mariä Geburt fliegen die Schwalben furt.“ Der Oberlehrer Ge-
desberger, der uns immer mit der Weidenrute so lange auf die Handinnenfläche geschlagen hat, bis die
roten Striemen platzten und bluteten - jetzt würde er mich nie mehr schlagen können -, hatte uns im
Unterricht einmal erzählt, dass diese wunderschönen, eleganten Vögel bei ihrer ersten großen Rast hin-
ter den Alpen von Wilddieben gefangen würden, die ihnen die Zunge herausschnitten, damit Köche sie
dann zu einer delikaten Speise verarbeiteten. Es ist mir jedes Mal schwergefallen, das zu glauben.
DieRegentagekamennunhäufiger.Nochwarestagsüberwarm,aberdieAbendewurdenmerklichküh-
ler und ungemütlich, die goldene Abendsonne, schien sie einmal, verschwand immer früher und verlor
ihre Kraft. Die Alten saßen nicht mehr auf den knorrigen Bänken vor dem Haus, auf denen schon ihre
Väter und deren Eltern gesessen hatten. Das Dorf wurde kleiner und das Leben beschränkte sich mehr
und mehr auf das kleine, armselige Haus mit dem mitten im Hof aufragenden Misthaufen.
Ich war froh, nun bald nicht mehr im Hof neben dem Misthaufen den Ziegenbock halten zu müssen,
wenn Dorfbewohner mit einer läufigen Ziege zum Decken kamen, wofür sie jeweils zehn Schilling be-
zahlten. Der intensiv nach Urin, Kuhstall und Brünftigkeit dünstende Gestank des Ziegenbocks, der ta-
gelanganderKleidunghaftenblieb,sodassmichdieSchulkameraden deswegenhänseltenundmieden,
war für mich schwer zu ertragen, auch wenn ich wusste, dass der Bock für meine Mutter nun mal eine
wichtige Geldeinnahme war - neben dem Kostgeld von meinem leiblichen Vater, den ich nie kennen-
gelernt habe. Selbst Max Meidler, mein treuer Schulfreund, hatte während dieser Ziegenbockzeit nicht
neben mir sitzen wollen, obwohl wir uns doch nach dem Selbstmord seines Bruders versprochen hatten,
immer nebeneinander zu sitzen. Aber diesen Kränkungen und all den vielen mehr, die ich durch meinen
Stiefvater zu erdulden hatte, war ich nun bald entronnen.
Die Lehrstelle im Hotel Goldenes Lamm in Horn hatte ich mir, wie bereits erwähnt, selbst gesucht, ich
hatte mich persönlich dort vorgestellt, und meine Aussichten, genommen zu werden, schienen ganz gut.
In einem gastronomischen Betrieb tätig zu sein entsprach aus verschiedenen Gründen meinen Vorstel-
lungenundWünschen.DerGedanke,nichtmehrzuHausezusein,nichtmehrdieschwere,harteFeldar-
beit verrichten undmeinen Stiefvater ertragen zu müssen, sondern stattdessen im Hotelgewerbe anderen
Menschen Gutes tun zu können, ihnen im weitesten Sinne zu dienen und zu helfen, erfüllte mich mit
Hoffnung. Viele Jahre war ich mit Inbrunst und Eifer in der Kirche Ministrant gewesen und dieses Die-
nen, ministrare , hatte mich vielfach glücklich gemacht, mir das Gefühl gegeben, etwas Richtiges und
Sinnvolles zu machen. Außerdem eröffnete mir die Hotellehre in Horn den einfachsten und schnellsten
Weg, von zu Hause wegzukommen. Die endgültige Entscheidung, ob ich die Stelle auch wirklich be-
kommen würde, sollte nun also mein dortiger Septembertermin bringen.
MontagfrühumsechsfuhrichmitdemPostbusvonGettsdorf nachZiersdorf,woichnacheinerStunde
Wartezeit in einen anderen Postbus umstieg, der mich in das etwa dreißig Kilometer entfernte Horn
brachte. Bald schon stand ich mit großem Herzklopfen vor dem Hotel. Habe noch einmal mein Zeugnis
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