Travel Reference
In-Depth Information
hatte ergeben, dass das Bildungssystem große Defizite besaß: hohe Abbrecherzahlen, besonders
unter Schülern aus bildungsfernen Haushalten, zu geringe Investitionen in Sanierung und
Modernisierung der Schulgebäude, kein ausreichender Abbau der sozialen Ungleichheiten im
Bildungssektor. Um dem zu begegnen, initiierte ein staatliches Förderprogramm eine verbesserte
Zulassung zu den Sekundarschulen, die vermehrte Einführung von Schülerstipendien und eine
stärkere Einbindung der Kommunen.
Auch von außen kamen politische Signale. Der Besuch des amerikanischen Präsidenten
John F. Kennedy im Juni 1963, der durch das neu gegründete irische Staatsfernsehen Radio
Telefis Eireann in die Privathaushalte übertragen wurde, kann in seiner Bedeutung kaum
überschätzt werden. Kennedy als Inbegriff des dynamischen, katholischen, sich zu seinen
irischen Wurzeln bekennenden Politikers wirkte auf die Parteienlandschaft von Fianna Fáil und
Fine Gael und auf den Regierungschef Sean Lemass wie ein Jungbrunnen.
So war es Lemass, der die 50-Jahr-Feier des Osteraufstands dazu nutzte, die verfeindeten
Lager zur Versöhnung aufzurufen. Im selben Jahr (1966), in dem die Statue von Lord Nelson auf
der Dubliner O'Connell Street gesprengt wurde, würdigte er die irischen Soldaten, die im Ersten
Weltkrieg für das Britische Empire gekämpft und die bis dahin als Verräter gegolten hatten. Mit
der politischen und gesellschaftlichen Liberalisierung ging eine kirchliche einher. 1970 hob die
Bischofskonferenz ihr Verbot für Katholiken auf, am Trinity College in Dublin zu studieren.
Ohnehin verlor der Katholizismus schrittweise seine geistige Leitfunktion, ganz zu schweigen
von seiner theologischen, was an der stark zurückgehenden Zahl von Priesterweihen erkennbar
wurde. Seine soziale Führungsrolle behielt er so lange, wie der sonntägliche Gottesdienst besucht
wurde. Anfang der 1970er Jahre taten dies noch 95 % der Katholiken. Erst die Debatte über den
Schwangerschaftsabbruch, in der die Kirche eine der letzten Bastionen ihrer moralischen
Deutungshoheit verteidigte, wurde zu einem Prüfstein für ihre soziale Relevanz - und für den
Pluralismus der irischen Gesellschaft.
In vielerlei Hinsicht blieb Irland jedoch bis mindestens zur Jahrhundertmitte provinziell,
was auch für die Literatur galt. Im kontinentalen Europa, in Großbritannien und in den USA
hatten seit der Jahrhundertwende Modernismus und Expressionismus, Surrealismus und
Dadaismus geblüht. Irland stand dagegen längst nicht mehr so international da wie noch um
1900, in der Epoche von Oscar Wilde. Fianna Fáil hatte sich als führende politische Partei das
Ziel gesetzt, die Anglisierung der Insel so weit wie möglich zurückzudrängen, die gälische
Sprache in den Grundschulen zum Pflichtfach zu machen und den Patriotismus mit dem Studium
der irischen Frühgeschichte zu nähren. Was Autoren nun beschäftigte, waren ausschließlich die
großen Themen der irischen Vergangenheit: Flucht und Emigration, Unterdrückung und
Rebellion. Eine Ausnahme bildete dabei W. B. Yeats, sowohl als Lyriker wie als Dramatiker und
Prosaschriftsteller. Seine Gedichtsammlungen, beeinflusst von englischen Autoren wie z.B. Percy
Bysshe Shelley und William Blake, waren in ihren symbolischen Formen international
maßgeblich und begründeten die «Irish Renaissance». Das Ambivalente an Yeats war sein
Versuch, irisches Nationalbewusstsein mit den Mitteln der englischen Sprache zu fördern. Mit
dem Dubliner Abbey Theatre wollte er beweisen, dass Protestantismus und irische Identität nicht
unvereinbar waren, zudem nahm er einen Sitz im Senat des Freistaats ein. Hingegen hatte er für
die emotionalen Aspekte des katholischen Nationalismus, für die Geschichte des Hungers und der
Vertreibung nur ein geringes Interesse.
Eine andere Ausnahme war der Kulturprotestant Samuel Beckett, der wie Wilde am
Trinity College Dublin sozialisiert wurde, wie Joyce den Großteil seines Lebens in Paris
verbrachte und wie Yeats mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde (1969). Für Beckett war
Irland politisch und kulturell unattraktiv. Literarisch und philosophisch fühlte er sich dem
Existenzialismus und dem Nihilismus näher, und seine berühmten Theaterstücke schrieb er im
Search WWH ::




Custom Search