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von endlosen Wohnvierteln und Fabriken, Mühlen, Schlachthöfen, Molkereien, Brennereien und
Bordellen geprägt. Oft waren besonders die Straßen, die von der Stadt aufs Land führten, von
unzähligen Gaststätten und Trinkhallen gesäumt. Armut und Alkoholismus waren Geschwister.
Wie in Liverpool oder Birmingham lagerten sich auch in Dublin und Belfast nach und
nach Arbeiterviertel an die Stadtkerne an, die Vororte wuchsen in hohem Tempo. Das hatte
mitunter soziale und ethnische Segregation zur Folge, führte aber in jedem Fall zu Konflikten
aufgrund der unzureichenden Wohnraumversorgung und der ständig steigenden Mieten. Da das
Nahverkehrssystem noch sehr unterentwickelt war, waren die Arbeiter darauf angewiesen, in der
Nähe der Fabriken zu wohnen. Hier bildeten sich Slums bzw. Arbeiterkolonien, während
diejenigen, die es sich leisten konnten, in die exklusiven Vororte abwanderten. Erst die
Einführung der elektrischen Straßenbahn ab 1872 überbrückte die Distanzen.
Weil sich jedoch im 19. Jahrhundert die Stadtlandschaft fortwährend veränderte, was in
Dublin unter anderem am Bau der Eisenbahnlinien und der Bahnhöfe lag, konnten sich kaum
lokale Identitäten herausbilden. Im Gegenteil, Charakteristika des beschleunigten Lebenswandels
im viktorianischen Zeitalter waren für eine große Bevölkerungsmehrheit die soziale
Entwurzelung und die alltägliche Kriminalität auf der Straße. Fast mehr noch als in London
blühten in den irischen Städten und allen voran in Dublin die Lotterie- und Wettbüros. Hier
wurde Armut nachgerade geschaffen, wenn Handwerker und Arbeiter in der Hoffnung auf einen
schnellen Gewinn ihren gesamten Besitz verwetteten.
Mangelnde Sozialhygiene, städtischer Lärm und Smog, Epidemien, Armut,
Arbeitslosigkeit, unzureichende Ernährung und verunreinigtes Trinkwasser schufen bei
gleichzeitigem Bevölkerungswachstum zum Teil katastrophale Verhältnisse. Die in ganz Europa
hohe Säuglingssterblichkeit machte auch in Irland keine Ausnahme, wo die übliche Praxis,
Kinder auszusetzen und sie der Obhut staatlicher Findelhäuser zu überlassen, einem nahezu
sicheren Todesurteil gleichkam.
Ein stärkerer Kontrast zum Milieu des aufstrebenden Wirtschafts- und
Industriebürgertums von Belfast ließ sich kaum vorstellen. Arbeitsethos, religiöser Ernst, soziales
Leistungsdenken, Bereitschaft zu ökonomischem Risiko und politischer Individualismus
spiegelten hier geistige Prinzipien des kirchlichen Nonkonformismus. Dieser stellte in Belfast,
anders als in Dublin, eine Gesinnungsgemeinschaft her, die auch für europäische Zuwanderer,
etwa jüdische aus den gehobenen Mittelschichten, attraktiv war.
Dublin wurde maßgeblich von seiner Funktion als Handelsknotenpunkt sowie als
administratives und kulturelles Zentrum geprägt. Als Reflex des irischen Nationalbewusstseins
trat 1854 neben das Trinity College die katholische Universität (seit 1909 University College
Dublin). Des Weiteren beherbergte die Stadt die renommierten wissenschaftlichen Vereinigungen
des Landes, mehrere Theater und die Sitze des protestantischen und des katholischen
Erzbischofs. Mit der Bildung des Irischen Freistaats 1922 erreichte der Aufstieg Dublins seinen
vorläufigen Höhepunkt, denn nun begannen auch Parlament, Ministerien, Botschaften und
internationale Organisationen das Stadtbild zu prägen.
Die Urbanisierung Irlands stand in unmittelbarer Beziehung zur Auswanderung:
Emigration hieß Landflucht. Der soziale Wandel hatte auch einschneidende Konsequenzen für
die Geschlechterbeziehungen, denn deutlich mehr Frauen zogen vom Land in die Städte, und
viele Bauernhöfe wurden von nun an von alleinstehenden Männern und nicht mehr von Familien
bewirtschaftet. Auch das West-Ost-Verhältnis veränderte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts,
und zwar zu Ungunsten des Westens. Ohne Zweifel war Connacht am stärksten betroffen. Wem
es hier finanziell möglich war oder wessen Familie bereits in Übersee lebte, emigrierte. Doch
wenn in den extrem verarmten Provinzen des Westens die Bevölkerung drastisch zurückging,
dann war das eher die Folge der Hungersnot als eine der Emigration. In den Jahren zwischen
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