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Islam und türkische Gesellschaft
Der Islam hat in den letzten Jahrzehnten nach der kemalistischen Revolu-
tion wieder viel Boden gutmachen können, wie vor allem der Wahlsieg
der islamischen Refah-Partisi (heute Fazilet Partisi ) zeigt. Die Versuche des
Staates, Religion zu entpolitisieren und nach westlichem Vorbild als Pri-
vatsache zu verankern, sind in vielen Fällen korrigiert worden, auch wenn
verfassungsmäßig die kemalistische Trennung von Staat und Kirche (Lai-
zismus, s. u.) weiterhin Bestand hat. Im Kampf zwischen Kemalismus (sä-
kularer Staat) und Islamismus (religiöse Umma) stehen vor allem die
Stellung der Frau und das Erziehungssystem bzw. Bildungswesen im Zen-
trum der Auseinandersetzungen.
Mit der Schaffung des bereits erwähnten „Präsidiums für Religiöse An-
gelegenheiten“, das dem Ministerpräsidenten unterstellt ist, versucht der
Staat seit 1924, die religiösen Aktivitäten zu lenken und zu kontrollieren.
Seine Mitarbeiter, seit 1970 als Verwaltungsbeamte im staatlichen Sold, re-
geln und schulen über die müftü ( mufti - hoher Geistlicher) das religiöse
Leben bis zur Bezirksebene hinab. Auch Imame (den christlichen Pfarrern
vergleichbar), Muezzins und Hodschas finden sich großenteils auf den
Lohnlisten des Staates wieder.
Der erste islamistische Regierungschef der Türkei, Necmettin Erbakan,
leistete bei Dienstantritt brav seinen Eid auf die kemalistische Verfassung,
um eineinhalb Jahre später wegen seiner antilaizistischen Haltung das
Verbot seiner „Wohlfahrtspartei“ (RP) hinnehmen zu müssen. Der heu-
tige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo¤an, damals als Istanbuler
Bürgermeister einer der prominentesten Vertreter der RP, kassierte 1998
eine zehnmonatige Haftstrafe, weil er „die Minarette als Bajonette, die
Kuppeln der Moscheen als Helme, die Moscheen als Kasernen und die
Gläubigen als Soldaten der Wohlfahrtspartei“ 12) bezeichnet hatte. Am glei-
chen Tag wurden zwanzig Geschäftsleute festgenommen, die einer prois-
lamischen Vereinigung angehörten.
In der „Operation Turban“ (eine islamische Kopfbedeckung wie der ver-
botene Fez) einigen sich die Rektoren der Hochschulen darauf, keine Stu-
denten zuzulassen, die islamische Embleme in die säkulare Universität tra-
gen wollen, als da wären Schleier, Turban, Voll- oder Schnurrbart; wer da-
gegen verstößt, kann von der Uni verwiesen werden 13) . Mehr noch: Das
Tragen von religiösen Kleidungsstücken wird unter Strafe gestellt und mit
einer sechs- bis zwölfmonatigen Haftstrafe (oder saftigen Geldstrafe)
sanktioniert. Hinter all dem steht der Gralshüter des Kemalismus, die Ar-
mee, die selbst peinlichst darauf achtet, dass ihre Korps nicht von islami-
schen Offizieren und Generälen infiltriert werden.
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