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Und dennoch: Trotz dieser erfolgreichen säkularen Kontrollinstrumente
erlebt der politisch agierende Islam bei vielen Bevölkerungsgruppen ei-
ne Renaissance. Als die islamisch-konservative AKP 2008 durch eine Ver-
fassungsänderung versuchte, das Kopftuchverbot zu kippen (siehe auch
„Asien oder Europa - Quo vadis Türkei?“), konnte sie sich auf die Zustim-
mung breiter Bevölkerungsgruppen berufen. Darunter befinden sich kei-
neswegs nur die anatolischen Geçekondu-Zuwanderer, die ihre sozial
schwierige Situation durch Zustimmung zu islamistischen Parteien und
Organisationen zu verbessern hoffen. Denn unterhalb der Ebene der
staatlich finanzierten Religionsbeamten wirken verschiedene Vereine und
religiöse Bruderschaften für die Attraktivität des Islam, bauen Moscheen,
unterstützen die Armen, finanzieren deren Kinder im Ausbildungsbereich
und offerieren Korankurse. Inwieweit gezielte Versuche zur islamistischen
Unterwanderung von Beamtenschaft, Wirtschaft und Armee vorliegen, ist
nicht leicht zu beurteilen; es ist zumindest nicht ganz von der Hand zu
weisen, dass so mancher Gläubige und religiöse Führer von der Errichtung
eines islamischen Gottesstaates träumen mag, in dem die Scharia (das is-
lamische Recht) die unheiligen Zustände wieder beseitigen würde.
Bei all diesen latent wie auch offen vorhandenen Ressentiments gegen
die westliche „Zivilisationsidee“ verwundert es auch nicht, dass selbst jun-
ge Studenten und Studentinnen stolz mit dem Kopftuch vor den Univer-
sitäten protestieren, Bart und Verschleierung als einfach schön und/oder
als Zeichen ihres individuellen Selbstbewusstseins bezeichnen und den
Einlass der Religion ins öffentliche Leben begehren. Und es ist nicht nur
für Kemalisten grotesk und zum Haareraufen, dass gerade der Islam, jene
im Westen als reaktionär verschrieene Religion, zum Zeichen des intellek-
tuellen Jugendprotestes wird.
Derartige gesellschaftliche Bewegungen sind sicher auch religiös ver-
brämte Protestideologien mit diesseitigen Zielen (Verbesserung der Le-
benssituation), aber die Renaissance des Islam hat darüber hinaus tiefer
gehende Ursachen. So steht es außer Frage, dass der Islam im Alltagsle-
ben für viele Menschen bewusst oder unbewusst eine verhaltenssteuern-
de und sinnstiftende Kraft im modernen Durcheinander darstellt.
S o sieht und fühlt es denn auch Mehmet, der Teppichverkäufer aus ei-
nem Dorf in Anatolien, der mir beim Blick über den trubeligen Boulevard
in Marmaris seine persönliche Rückwendung zur Religion erklärt: „Als
ich mit 16 Jahren aus Anatolien hierhin kam, um an Touristen Teppiche zu
verkaufen, schien mir Marmaris mit seinen Geschäften, Bars, Frauen und
anderen Freizügigkeiten der Himmel auf Erden zu sein. Ich habe geweint,
DerTanzderDerwische
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