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Schreibtisch war würdevoll, Gestik und Stimme kontrolliert und fast for-
mell; an meine weibliche Begleitung wurden keine Fragen gerichtet.
Einerseits erweist der Dorfälteste hier den Gästen die Ehre, von ihm - al-
so damit dem ganzen Dorf! - eingeladen zu werden, andererseits darf er
dafür erwarten, dass die Annahme der Einladung ihm selbst die Möglich-
keit gibt, die Ehrerweisung der Gäste zu erfahren (siehe Kapitel „Gast-
freundschaft“). Das ganze Procedere dient dem Austausch und der De-
monstration von Sayg£ , wobei in diesem Fall durch die Person (Position)
des Dorfvorstehers das Gesprächsverhalten fast rituelle Züge annahm.
Der Reisende sollte sich darüber klar sein, in einer solchen Situation
nicht ein persönliches, sondern ein vom Umfeld gefordertes und erwar-
tetes Gesprächsverhalten an den Tag legen zu müssen. Nicht nur der
Person des muhtar (Kriterien: Geschlecht + Alter = Sayg£ ), sondern vor al-
lem seiner Funktion und seiner Stellung ( ¦eref ) gebührt hier Respekt. Das
bedeutet, dass man ihm Zeit für seine Gastgeberrolle gibt (eine weitere
Teerunde, von ihm vorgeschlagen, muss von vornherein einkalkuliert wer-
den) und dass man ihn in seiner Funktion gebührend ehrt: Er spricht län-
ger als der Gast, dieser erwidert anerkennend und bejahend seine Fest-
stellungen (etwaige Belehrungen oder gar Kritik sind hier fehl am Platze;
erst recht, wenn die Untergebenen anwesend sind!). Die Fragen des
Gastes zum Dorf werden gerne beantwortet werden; wird der Gast um-
gekehrt nach seinen Eindrücken befragt, so werden positive Äußerungen
(„schönes Dorf“) erwartet.
Auch wenn Sie nicht alles verstehen sollten, gehört eine bestätigende
Mimik und der Ausdruck einer respektvollen Beachtung in das Verhal-
tensrepertoire. Respektvoll heißt allerdings nicht unterwürfig! Denn ande-
rerseits bedeutet die Einladung, dass Sie nun selbst eine Respektperson
dars tellen, sich also auch so positionieren und verhalten müssen. Sie wer-
den dankend, aber selbstverständlich die Stühle neben ihrem Gastgeber
annehmen (auch wenn die anderen im Raum dann nicht mehr sitzen kön-
nen); ihre Erwiderungen/Antworten bzw. Fragen sollten mit fester und
kräftiger Stimme erfolgen und ihre Haltung Selbstbewusstsein (nicht Arro-
ganz) ausdrücken. Sollten jüngere Leute als Sie selbst im Raum sein, sind
die von diesen körperlich oder sprachlich ausgedrückten Respektbezeu-
gungen freundlich, aber selbstsicher anzunehmen („körperlich“ heißt, die
Jüngeren werden räumliche Distanz zu Ihnen wahren; „sprachlich“ äußert
sich ihre Ehrerbietung darin, dass sie nur wenig oder gar nicht mit Ihnen
reden werden).
Die Kunst besteht also darin, Geben und Nehmen (von Sayg£) so zu
dosieren, dass Ihr Gastgeber von der Würde seines Gastes und dieser von
der Würde seines Gastgebers profitiert. Die Bilanz dieses Austausches
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