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Noch! Denn mit den steigenden individuellen Konsumansprüchen setzt
sich wohl auch in der Türkei jene westliche Spirale von noch nicht erlang-
ten, aber beständig gewünschten Gütern durch, die ihre Verehrer zuneh-
mend in Spannung und auf Trab halten. So befinden sich sicherlich nicht
alle Männer, die der Besucher für Stunden im Teehaus sitzen sehen kann,
in lauter Glückseligkeit und Eintracht mit sich selbst.
Viele von ihnen sind arbeitslos, werden von Familienmitgliedern gehal-
ten, ohne selbst eine Familie halten zu können. Viele flüchten vor den Pro-
blemen zu Hause, vor ihrem familiär-sozialen Versagen, das fast immer
damit zusammenhängt, dass man die Rolle des Mannes, des Oberhauptes
nicht er- oder ausfüllen kann. (Die steigende Zahl der Ehescheidungen ge-
rade in den westlichen Städten und Regionen geht auf die Initiative von
Frauen zurück; einer der vorgebrachten Hauptgründe liegt in der zuneh-
menden Gewalt der Ehemänner, die ihr Verhalten damit rechtfertigen,
dass die Frau „verschwendungssüchtig“ sei). 89)
Probleme gibt es also mehr als genug, insbesondere in den Städten. Das
Leben wird schneller, die Arbeitszeit dichter, die Schaufenster werden im-
mer größer, die Wünsche unendlich - und die Sorgen auch. Denn wenn
das eigene Glück erst einmal im Außen, in der Ware, liegt und wenn diese
inflationär, d. h. unendlich wird, dann läuft man den Fetischen der Kon-
sumgesellschaft hinterher - für immer und ein Leben lang. Der feste Rah-
men eines agrarischen und zyklischen Lebens wird zerbrochen; es regiert
der rahmen- und maßlose Fortschritt.
Für Keyif braucht man sicherlich eine Portion sorgenfreie Zeit - als sol-
ches schon ein knappes Gut in einer hetzenden Welt -, aber Zeit alleine
erklärt nicht, warum ein armer Wasserverkäufer oder Landarbeiter täglich
(!) auf einem wackeligen Holzstuhl mit einem Glas çay jenes seltsam zu-
friedene Bei-sich-Sein se in eigen nennen kann, das der westliche Frei-
zeitspezialist auch in einem Fünf-Sterne-Hotel nicht finden wird (denn die-
ses ist auch nur eine Ware unter vielen).
Das Geheimnis von Keyif - traditionellem Keyif (nicht zu verwechseln
mit Zerstreuung oder Entspannung)! - liegt darin begründet, dass die kon-
servative türkische Kultur und Denkweise die eines geschlossenen Sys-
tems ist. Dieses System hat viele Räume (Situationen), die alle durch feste
Werte und Regeln bestimmt sind und diejenigen definieren, die sich in ih-
nen aufhalten. Die Identität der Person resultiert aus der Identität des
Raumes (Situation), womit das Leben schnell einen zyklisch-statischen
„Nargile“ (Wasserpfeife) und „Tavla“ (Backgammon)
im Teehaus - Raum für Keyif
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