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chen wie der Hamster in der Tretmühle wieder im „Ernst des Lebens“ zu
rotieren.
Allerdings sind Urlaub und Keyif qualitativ sehr verschiedene Zustände.
Ersteres ist ein bewusst nicht-alltägliches, künstliches Produkt des westli-
chen Arbeitsethos, sozusagen seine vermeintliche Schokoladenseite. So
braucht der Pauschaltourist Luxus, Freizeitprogramme, Swimming-Pools,
d. h. all jene materiellen Annehmlichkeiten des Lebens, für die er das
ganze Jahr zu schuft en bereit ist. Jetzt genießt er endlich den Lohn seiner
Arbeit: das luxuriöse Rundum-Versorgtsein, die Beherrschung der Dinge,
die in Wahrheit ihn beherrschen. Nach zwei bis drei Wochen bekommen
die meisten Urlauber Entzugserscheinungen (Langeweile!), weil sie das
Nichts-Tun nicht sinnvoll füllen können und sich nach der Stresspeitsche
des Alltags sehnen.
Keyif dagegen ist etwas qualitativ anderes: Es bedarf keines Luxus (mit
Ausnahme des kleinen Tulpenglases vielleicht), keines Animationspro-
gramms, keiner ablenkenden Dinglichkeit des Muße-Treibens (die Zei-
tung, die man liest, ist deshalb schon ein reduzierter Grad von Keyif). Wer
Keyif betreibt, hat die Dinge losgelassen; sie haben für einen Moment,
vielleicht Stunden, keine Macht mehr. Und Keyif ist immer sinnvoll, nie-
mals langweilig, es ist gefüllte Zeit, die real existierende und bewusste
„harmonia mundi“, die den Tag auf das Wesentliche kondensiert. Finden
k ann man Keyif nur, wenn man weiß, wo es existiert.
Die Türken, jedenfalls die älteren, nicht von westlichen Stressbazillen be-
fallenen, wissen es noch. Und das, obwohl auch für sie (fast) der ganze
Tag Arbeit, harte, notwendige Arbeit ist. Der Schuhputzer ( ayakkab£
boyac£s£), der Pastetenverkäufer (börekçi), der Wasserträger (sucu), der
mobile Imbissverkäufer (kebabç£), der Trödelhändler (eskici) und all die Le-
gionen an selbstständigen Ein-Mann-Betrieben sc hieben und schleppen
von morgens bis abends ihre Karren und Sachen von einem Punkt zum
andern oder stehen für Stunden an derselben Stelle, um den Passanten für
wenig Geld ihre Dienste und Produkte anzubieten. Das, was reinkommt,
ist dann am Abend oft zuwenig, um eine Familie zu ernähren; so muss die
Frau mit ihrem Putzjob zunehmend mithelfen, ja sogar die Kinder werden
früh mit eingespannt, sei es, dass sie bezahlte Botendienste (z. B. das Ver-
teilen von çay auf großen Teetabletts an die umliegenden Geschäftsleute)
oder die Aufsicht über den väterlichen kleinen Tante-Emma-Laden (bak-
kal) übernehmen.
Nein, das Leben ist kein Zuckerschlecken in der Türkei. Trotzdem ge-
lingt es den meisten immer noch, dem Tag ein oder auch zwei harmoni-
sche Stunden abzuringen, den Raum für Keyif zu finden, aus dem man
dann nicht nur Kraft, sondern auch tiefe Zufriedenheit tanken kann.
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