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wieder durch Zuzüge verstärkt werden (wir erinnern uns an den Namen
„Sivastanbul“, der zeigt, dass viele Istanbuler Zuwanderer aus der Gegend
um Sivas stammen). Die enge, auf relativ starren traditionellen Strukturen
basierende Dorfgemeinschaft versetzt sich so gleichsam in die Stadt, und
die Zuwanderer nehmen vorerst nicht die individuelle, anonyme und so-
zial flexible Identität des Städters an. Erst die Folgegenerationen der Geçe-
kondu-Zuwanderer - so sie denn einen gewissen materiellen Aufstieg er-
fahren - werden die gemeinschaftsauflösende, individualisierende Le-
bensform der Stadt mehr und mehr annehmen.
Dies ist der Hintergrund des für den westlichen Touristen so krass auf-
scheinenden „Doppelcharakters“ der türkischen Stadt - und es ist der
Grund für Turgut und viele andere „echte“ Städter die „kulturelle Ver-
schmutzung“ 40) zu beklagen.
Der Kampf um die türkische Identität, der heute vor allem in Form der
islamischen Debatte und Renaissance stattfindet, wird nicht in erster Linie
auf dem Land, sondern in der Stadt entschieden. Das Dorf bzw. das Land,
als traditioneller Osten eine sich wirtschaftlich wie demografisch auflö-
sende Lebensform, gewinnt als städtisches Problem, ja als Problem der
Moderne schlechthin, in Form der Geçekondus eine enorme Sprengkraft.
Denn der Zuzug in die Stadt, die Aufgabe des „Alten“, erfolgt unter dem
Vorbehalt der materiellen Besserstellung. Kann die Moderne (Stadt) aber
nicht halten, was sie verspricht, wird auch ihre Lebens- und Funktionswei-
se nicht anerkannt werden, und es kommt gleichsam mitten in der Stadt
zur dörflichen Massendemonstration. Denn als solche müsste man die
nicht mehr integrierbaren Geçekondus bezeichnen, in denen sich dörf-
liche Sozialabsicherungen und -techniken auflösen, ohne durch einen er-
hofften materiellen Aufstieg „belohnt“ und ersetzt zu werden. Dann
wären die Geçekondus die türkische „Variante“ jener typisch „modernen“
Slums, die von Bangkok bis Rio die Untauglichkeit der modernen Lebens-
form für große Teile der Weltbevölkerung demonstrieren. Aber noch (!)
besitzen die Geçekondus intakte soziale Strukturen und können von den
Stadtverwaltungen integriert werden.
Dass Islamisten keine Schwierigkeit haben, die besseren alten Zeiten
und Gesetze zu reklamieren („Vorstellung von einer Gerechten Ord-
nung“) 41) und mitten in der Stadt die Majorität der dörflichen Religiosität
mobilisieren können, kann dann kaum mehr verwundern; der ehemalige
islamisch-konservative Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdo¤an,
hat sich längst als Nachfolger Necmettin Erbakans erfolgreich etabliert. Er
ist heute als Ministerpräsident - ungeachtet der früheren Prozesse, die
ihm wegen Volksverhetzung und Korruption gemacht wurden - einer der
populärsten Politiker des Landes.
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