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Und wie immer, wenn man über Gedeih und Verderb westlicher Zivili-
sationsmuster debatiert, hängt alles am Geld und seiner Erwerbsbedin-
gung: dem Faktor Arbeit. In diesem Zusammenhang verheißt der Anteil
der Produktionszweige an der Wirtschaftskraft des Landes nicht unbe-
dingt den Sprung ins Industriezeitalter. Denn das für moderne Staaten so
wichtige produzierende Gewerbe, also die Industrie, erwirtschaftet mit
25,9% gerade mal ein Viertel des BIP (Landwirtschaft 15,3%, Dienstleis-
tungen 58,7% 42) ). Zwar hat sich damit die Wirtschaftskraft der beiden Sek-
toren Landwirtschaft und Industrie seit 1923 im Sinne einer modernen
Wirtschaft verändert (1923: Industrie 13,2%, Landwirtschaft 39,8%,
Dienstleistungen 44,3% 43) ), aber die Bedeutung der Industrie hängt doch
weit hinter dem auffallend hohen und konstanten Anteil der Dienstleis-
tungen zurück. Noch wichtiger ist, dass die Beschäftigungsquote in der
Industrie lediglich 15% ausmacht, während immerhin fast 40% eine wie
auch immer geartete Arbeit im sogenannten tertiären Sektor der Dienst-
leistungen finden 44) . „Diese Zahlen zeigen eindeutig, dass in der Türkei das
Städtewachstum der industriellen Entwicklung vorauseilt, während es in
Europa eine Folge der Industrialisierung war.“ 45)
Zu den Dienstleistungen gehören nicht nur die Angestellten und Beam-
ten des Öffentlichen Dienstes; ein Heer an „selbstständigen“ Schuhput-
zern, Simit- und Imbissverkäufern, Lastträgern, „Tante-Emma-Ladenbesit-
zern“ und Taxifahrern (um nur einige zu nennen) bevölkert die Straßen
und Gassen der Städte. Wenn es etwas in der Türkei im Überfluss gibt,
dann ist es billige Arbeitskraft, und der (aus der Not geborene) Erfin-
dungsreichtum der Ein-Mann-Betriebe würde jeden modernen Wirt-
schaftswissenschaftler, der die glänzende Zukunft des tertiären Sektors
predigt, in Entzücken schwelgen lassen.
Dass viele dieser stadttypischen Tätigkeiten kaum ihren Mann, ge-
schweige denn eine Familie ernähren können, ist die Kehrseite der Herr-
lichkeit, die immerhin dafür verantwortlich ist, dass die offizielle Arbeits-
losenquote nur bei 5,9% (auf dem Lande 3,2%, in den Städten 9,2%) 46)
liegt. Vor allem hinter der erstaunlich niedrigen - und wenig aussagekräf-
tigen - Quote auf dem Land verbirgt sich die abfedernde soziale Einbin-
dung des Familien- und Sippenverbandes, der sich als Ganzes erhält und
unterstützt, sodass das Schicksal des Einzelnen durch ein uraltes, praktisch
gelebtes Solidaritätsprinzip in der Gruppe aufgefangen wird.
Und es ist dieser aus der dörflichen Tradition mitgebrachte Sozial-
charakter (Unterstützung in der Familie, funktionierende Klientel- und Pa-
tronatswirtschaft), der auch in den Städten den sozialen Frieden der
Geçekondu-Bewohner (noch) verbürgt. Es ist schon grotesk: Die Tatsache,
dass das den Städtern so missliebige eingewanderte Dorf auch seine
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