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Die Türkei beim Psyhiater also. Murat Paker ist Psyhotherapeut an der Bilgi
Universität. Was, Herr Paker, würden Sie sehen, fragte ihn die Zeitung »Zaman«,
wenn die Türkei sih bei Ihnen auf die Couh legen würde? »Als Erstes würde sie
sagen, dass sie niht freiwillig hier wäre, dass man sie gezwungen hat. Wenn man sie
dann zum Sprehen brähte - was ih bezweile -, träte wohl das Bild einer harten,
zornigen, verwirrten und misstrauishen Türkei zutage - dahinter aber eine zer-
brehlihe Struktur, verstört über ihre inneren Widersprühe.« Und woher die Ver-
störtheit? Der Ursprung liege shon ein Jahrhundert zurük: das Trauma, aus dem
die Republik entstand. Als die Osmanen ihr Reih verloren und man den Türken um
ein Haar auh noh Anatolien genommen häte. »Es ist ein Trauma, das bis heute
nahwirkt. Eine ehte Furht vor Auslöshung«, sagt Paker. Hinzu kommt, dass den
Türken Trauer um die erlitenen Verluste niht gestatet war: Atatürk erfand 1923
ein neues Land und einen neuen Menshen - und kappte die Bande zu allem Os-
manishen. Allein der Blik nah vorn war gestatet. Nah der Shritreform und dem
Sprung vom Arabishen zum Lateinishen konnten die Menshen niht einmal mehr
die Briefe ihrer Väter und Großväter lesen.
Und seither ist dies eine Gesellshat, die sih aufs Vergessen spezialisiert hat, niht
aufs Erinnern. »Vielleiht war es besser, zu vergessen«, sagt Murat Belge, der große
Istanbulkenner, linke Intellektuelle und einstige politishe Hätling, »nah all dem
Shreken: Krieg, Vertreibung, Armut, Hunger und Tod.« Anders, meint auh der
heute in Deutshland lebende Radiologe Alper Öktem, ein Freund und Berater des
Grünen-Politikers Cem Özdemir, häten die Türken wohl niht überleben können:
»Die Alternative zum Vergessen wäre die Shizophrenie gewesen. Sie waren Opfer.
Und sie waren gleihzeitig Täter. Zu Hause wurden ganz andere Geshihten erzählt
als in der Shule und vom Staat.« Man vergisst also das, was einem angetan wurde,
und man vergisst das, was man anderen angetan hat. Oder man vergisst partiell und
entshuldigt das, was man anderen angetan hat mit dem, was einem selbst angetan
wurde.
Mag die Wirkung auh einst eine heilsame gewesen sein - längst ist die kollektive
Amnesie zum hronishen Defekt geworden, mit dem sih die Türkei bei ihrem
Marsh Rihtung Demokratie und Europa selbst im Weg steht. Das gilt für die
kleinen Blitzamnesien, von denen die türkishe Öfentlihkeit regelmäßig befallen
wird, etwa wenn der Korruptionsskandal eines Ministers oder die historishe Re-
forminitiative der Regierung nah ein paar Tagen so plötzlih aus den Zeitungen ver-
shwinden, wie sie hineingelatert sind. War da was? Und das gilt erst reht für die
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